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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 27.1915/​1916

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Rauecker, Bruno: Der Krieg als Erzieher zur Type, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.4828#0038

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Und doch schrieb schon im Jahre 1809 am
6. September der Vogtländische Anzeiger: »Die Mode
gebietet, sich nicht mehr in Seide zu kleiden, und
Lyons Bevölkerung wird brotlos; man hört auf, Stahl-
knöpfe zu tragen, und es entsteht Aufruhr in Bir-
mingham!« Und dennoch ist es erwiesen, daß die
Lohnausschüsse in der Heimarbeit, die endlich einmal
gesündere Arbeitsverhältnisse in jene trüben Wirt-
schaftsformen bringen sollen, nur deshalb nicht ein-
geführt wurden, weil der Gesetzgeber vor den vielen,
aus dem Wechsel der Mode entstammten Ausnahme-
bedingungen zurückschreckte! Die Umwandlungen
der Krinolinfabriken zu Korsettproduzenten in den
siebziger Jahren, die vor nunmehr vier Jahren im Ab-
lauf dreier Monate von 1,25 Fr. zu 4,25 Fr. und bald
darauf wieder zu 1 Fr. konvertierten Löhne in der
französischen Spitzenindustrie, sie sind auch einer
breiteren Allgemeinheit wohlbekannt. Ja, man weiß
sogar, daß die englischen Tuchfabrikanten bessere
Ware liefern konnten, mit dem Hinweise, daß ihre
Mode sich nicht verändere. — Gleichviel! Mag eine
Untersuchung dieser Fragen immerhin noch bevor-
stehen, mag eine nahe Zukunft der Organisation auch
dieses Sozialgebildes sich bildend annehmen: die
nationale Bedeutung der Mode, der hierdurch be-
dingte typische Weg aller modischen Gewerbe zu
neuer Orientierung ist heute schon beschritten. Bereits
im Frieden zeigten sich Ansätze zu einer Regelung
des Mustervertriebes in den qualitätsbestimmten In-
dustrien: Im Erzgebirgischen Posamentenverband, im
Silberwarenfabrikantenkonzern, im Linoleumring waren
Vereinigungen mit dem ausgesprochenen Zwecke der
Qualitätsleistung nach Spezialitäten entstanden. Die
Schuhindustriellen sind schon vor vier Jahren, am
17. Mai 1911, "zu einer Konferenz zusammengetreten,
in deren Ablauf Richtlinien für die kommende Saison
festgelegt wurden unter »Benutzung und organischer
Fortentwicklung der gangbaren Muster der verflossenen
Saison«. Ja sogar die Interessengemeinschaft der
Friseure veranstaltet jährlich zur Eindämmung des
Modewechsels ein zünftlerisches Meisterschaftsfrisieren.
Im Kriege sind ähnliche Bestrebungen des Verbandes
zur Förderung der deutschen Hutmode, der unter-
schiedlichen, in der Bildung begriffenen Modebünde,
des Vereins »Deutsche Arbeit«, wie auch des »Deut-
schen Werkbundes« hinzugekommen. Als eine Schar
Abgewandter in den Regelungen der Mode verblieben
nur mehr: die Konfektionäre und die Künstler. Jene
haben im Ablaufe der letzten Jahre in Nordamerika
zwar bewiesen, daß auch sie zu Verständigungen über
die Ausmusterungen jeder Saison und damit zu
ruhigerem Ausbau einmal gegebener Absatzmöglich-
keiten gewillt und geeignet sind, in Deutschland in-
des stehen sie neueren Bestrebungen zur Nationali-
sierung vorläufig noch verwirrt gegenüber.

Und die Künstler? So weit wir sehen können,
sind sie in ihrer großen Masse zu keinerlei Verständnis
der qualitativen Schädigungen durch die Mode, ge-
schweige denn zu einem Begreifenwollen wirtschafts-
politischer und sozialer, in ihrem Gefolge erzeugten
Wirkungen heute schon vorgedrungen. Ihre Lust am

Neuen, ihr Bedürfnis, den Charakter der Frauen um
des spielenden Tandes wegen und ihren Schmuck
wiederum um der Frauen willen zu lieben, hat sie
zu abgesagten Gegnern aller Modehemmungen Jahr
für Jahr gemacht. Vielleicht sogar, bei näherem Hin-
sehenkönnen, wird den einen oder anderen lockender
Verdienst aus dem bunten Quell neuartiger, sprudeln-
der, vergänglicher Erfindungen zu seiner Stellung-
nahme veranlaßt haben. Ganz sicherlich aber be-
grüßten die Suchenden, die Sehnsüchtigen nach einem
neuen, deutschen Stile die Mode und ihre Skala als
einen wertvollen, getreuen Gradmesser der kulturellen
Entwicklung ihrer Zeiten überhaupt.

Aus solchen Überlegungen und Instinkten reißt
sie heute der nationale Gedanke. Zu stärkster, un-
mittelbarster Mitarbeit an einem Problem beständigerer,
weil politisch und sozial tragkräftigerer Leistungen be-
rufen, steht ihre Kraft, ihr Künstlertum vor neuen,
noch vor kurzem ungeahnten Aufgaben: Gezwungen,
in den Organismus der Volkswirtschaft denkend und
handelnd einzutreten, suchen sie auch in der Mode
den Weg zu einem Übergang aus bisher gegebenen
Formen zu einem Fortsatz, der deutsch und deshalb
beständiger sein soll. In diesem Suchen wird der
Typ, das von allen Modebrünstigen gemeinsam be-
gehrte Muster ihrer Leistungen Ziel und Rückhalt sein
müssen. Denn aus volkstümlichem Boden geboren,
ohne den ihr Wollen, das nationale Wollen müßiges
Tasten bliebe, schaffen die Künstler das Gewand für
den Träger und tiefen Schöpfer neuer, in blutendem
Bunde gewordenen Demokratien, für das Volk. Ruhe,
Sorgfalt und Beharrlichkeit, das Glück beständigerer
Leistungen wird ihnen bei solchem Ziele zuteil werden
können. Nach ihnen, als den Leitenden, den Schöpfe-
rischen, so wenig wie möglich Beamteten und in Ab-
hängigkeit Entlöhnten wird der Auftraggeber und der
Verbraucher einer gereiften Nation sich richten, der
Willen eines siegreichen Volkes sich zu wenden haben.
Möge ihnen dieser Schritt zum Volke, ins Allgemeine
und Besondere, die Vereinigungen des Persönlichen
im soziologisch dennoch Gemeinsamen: der tiefste
Sinn jeder gesunden Modebildung überhaupt, vollauf
gelingen können: die furchtbaren Opfer des Krieges
machten sich auch hierin bezahlt.

In memoriam Eduard VII.

Mit dieser Widmung erschien vor einigen fahren im
Mode-Verlag von Gustav Lyon in Berlin ein »Herrenbre-
vier: Lebenskunst'.'-. Als der Verfasser mit dem Schreiben
des Buches beinahe fertig gewesen war, traf die Kunde ein,
daß König Eduard von England verschieden sei. Dies gab
der Widmung eine »tragische Wendung" und machte ein
Nachwort notwendig, »ein letztes Senken der Fahne vor dem
großen Toten, als ein letzter Zoll von Ehrfurcht und Liebe
für eine Persönlichkeit, die ein Werk hinter sich läßt". Das
Nachwort spricht nun von Eduard, dem »unbestritten bedeu-
tendsten Monarchen und Staatsmann, den die zeitgenössische
Welt überhaupt hatte". »Ein großer Modekönig muß eben
dieselben Eigenschaften haben, wie ein großer Staatsmann.
Und nicht nur Deutschland ist zurzeit an großen Staats-
männern bettelarm« ... »In die Trauer um den Toten
mischt sich bange Sorge um die Zukunft.«

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