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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 27.1915/​1916

DOI Artikel:
Jessen, Peter: Reisestudien, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.4828#0233

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tut-

zer-

vor
urs
lier,

'1

Auf den ersten Blick war auch von der
gesunden Gesinnung, um die wir damals das
amerikanische Kunstgewerbe beneiden zu müssen
glaubten, nicht viel zu spüren. Was dem Fremden
zuerst vor Augen tritt, die Ausstattung der großen
Gasthöfe, ist unter gewaltigem Aufwand kost-
spieligen Materials ein leerer, aufdringlicher Prunk
in den Pariser Königsstilen, unpersönlich kopiert
oder nachempfunden, ohne jeden amerikanischen
Einschlag. Dieselbe laute Überfülle fand ich
in neuesten Millionärspalästen der Fifth Avenue,
dort, wo vor zwanzig Jahren manches feine Haus
im Sinne guter Renaissance gestaltet worden war,
und denselben Geist auch bei den führenden
Dekorationsfirmen, den Lieferanten der großen
Welt. Alte Vorlagen, bis nahe an Fälschung
nachgebildet, durchweg 18. Jahrhundert, meist
französisch, aber auch englisch und gelegentlich
altamerikanisch; gegründet auf die einseitige
Vorliebe für Antiquitäten, wie sie durch die ge-
rissenen Althändler in der Welt der Empor-
kömmlinge genährt wird. Die Technik zum Teil höchst gediegen, nicht selten von deutschen Händen.

Whitney Warren, New York

Untergeschoß im Zentralbahnhof

An

.aß

der Spitze dieser Häuser fand ich als Betriebsleiter wiederholt Deutsche aus jener Schule, mit der wir vor
dreißig Jahren unsere Zeichner und Tischler in die Welt zu schicken pflegten. Sie unterhalten in New York
noch heute ihren kleinen Kunstgewerbeverein, genau so gemütlich, bieder und geschmacksfremd, wie solche
Vereine bei uns vor einem Menschenalter gewesen sind. Der frische Wind einer neuen Zeit, der in Deutsch-
land das Spinnweb aus diesen Ecken ausgekehrt hat, war an ihnen spurlos vorübergestrichen. Während unser
Kunstgewerbe zur Werkkunst, unsere Kunstgewerbler zu Handwerkskünstlern gewachsen sind, und zeitgemäße
Organisationen, wie die »Werkstätten« die Spitze genommen haben, herrschen in den führenden Kreisen von New
York noch das »Möbel- und Dekorationsgeschäft« und der Musterzeichner als die unbestrittenen Großmächte.

Zu einer Änderung schien nach dem Stande des Fachschulwesens zunächst wenig Aussicht. Damit geht
es, wie drüben mit vielen Gebieten geistiger Arbeit: die allgemeinen Interessen und Ideale stehen voran,
die Fachleistungen zurück. Wir kennen den jugendfrischen Geist des Kunstunterrichts in den amerikanischen
Volks- und Bürgerschulen; ich hatte ihn zuletzt auf dem internationalen Zeichenkongreß in London igo8
bewundert. Zugleich auf fröhliches Naturstudium, Handarbeit und Geschmacksbildung gegründet, hat er uns
Anregungen gegeben, die wir nach deutscher Art methodisch und theoretisch übertroffen, in der Wirklichkeit
freilich nicht entfernt erreicht haben. Ich habe drüben die Knaben verschiedenster Stände und Lebensalter
in weiten Sälen an der Hobelbank und Drehbank geschäftig gesehen. In San Francisco geriet ich in eine
lebensgefährlich gedrängte Riesenausstellung von Handwerksarbeiten aus Kinderhand; man sah es den jungen
Erfindern und ihren Eltern an, wie leidenschaftlich dieses Volk seine Jugend für das Leben vorbereitet. Das

reicht bis zu den Universitäten hinauf und
spiegelt sich auch im technischen Unterricht
wieder. Aber an Fachschulen für das Kunst-
gewerbe fehlt es noch völlig. Ein junger
Deutscher, der die Metallklasse einer Kunst-
schule in Groß-New York leitete, klagte bitter,
daß seine werkmäßigen Absichten von den
Schülern und Schülerinnen wenig gewürdigt
würden. Die Kunstschulen sorgen in erster
Liniefür Dilettanten und Zeichenlehrer, darunter
weit mehr Frauen als Männer. Dem eigent-
lichen Kunsthandwerk fehlt es noch durchaus
an planvoller Förderung in unserem Sinne.
Allein es wäre kurzsichtig, nach solchen
ersten Eindrücken darüber zu entscheiden, ob
wir uns nach dem Kriege auf einen sinkenden
oder steigenden Geschmack in Amerika ein-
richten sollen. Ich bin deshalb weiterhin ge-
rade den weniger augenfälligen Ansätzen zu
neuer Kunstgesinnung nachgegangen und fand,
wie unsere Beobachter vor zwanzig Jahren,

34*

Whitney Warren, New York

Zugang zum Untergeschoß im Zentralbahnhot

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