Entscheidungsspielräume im Spannungsfeld von Repräsentation und Ritual 271
Juristen überliefert, die diese Texte in der Ausübung ihrer Tätigkeit vor Gericht
benötigten, es gab keine offizielle Sammlung der »Statutes of the Realm«.29 An-
ders als die Goldene Bulle, die durch das kaiserliche Siegel zu einem normativen
Text von höchstem Rang erhoben wurde, waren diese englischen Texte über die
Verfahrensweise des Parlaments eher private Aufzeichnungen, die durch die
Bewährung im politischen Prozess Bedeutung und schließlich Verbindlichkeit
erhielten (damit in gewisser Weise den Texten aus der Anfangsphase des ka-
nonischen Rechts vergleichbar).30 Der politische Prozess war dabei wiederholt
ein so spannungsreicher Vorgang, dass das Zeremoniell in den Hintergrund
gedrängt wurde. Das Gedränge in der white chamber von Westminster, das die
Kulisse für das Vorgehen der Gegner Richards II. gegen die Berater des Königs
1388 bildete, war in keiner Sitzordnung vorgesehen. Aber hier stand zu viel
auf dem Spiel: die angeklagten Berater wurden hingerichtet.31 Das Geschehen
war durch die widerstreitenden Kräfte zu bewegt, so dass es sich nicht in die
abgeklärten Bahnen eines bewährten Ablaufs fügte.
In dieser Phase, in der das Parlament mit schließlichem Erfolg um sein
Selbstverständnis rang, entstand noch kein ritualisierter Ablauf in festen For-
men. Darin war das englische Geschehen der Papstwahl auf dem Konstanzer
Konzil, die wir eingangs angeführt haben, in gewisser Weise vergleichbar. Die
Formen kamen, als die politischen Ansprüche dieser Versammlung des König-
reichs einigermaßen geklärt waren - im späten 15. Jahrhundert wird etwa die
Überlieferung des Modus tenendi Parliamentum breit und lässt dieses Formenin-
teresse erkennen.32 Im Reich konnte sich dieser Formalisierungsprozess, der in
hohem Maße ein Rezeptionsprozess der Goldenen Bulle war, ohne dauernde
Erprobung im politischen Alltag vollziehen. Dieser Prozess war im späten 14.
und im 15. Jahrhundert ein durchaus abstrakter Vorgang, der sich den Niede-
rungen der Bewährung im Konflikt der Interessen nur begrenzt aussetzte. Als
der Reichstag dann schließlich als Institution im späten 15. Jahrhundert zu ei-
ner realen Erscheinung der Reichspolitik wurde, waren die Verfassungskämpfe
bereits ausgekämpft.33 Die Strukturen waren weitgehend klar. Das Zeremoniell
29 Die Sammlung The Statutes of the Realm. Printed by command of His Majesty King John the
Third, in pursuance of an address of the House of Commons of Great Britain, 1-11, London
1810-1828, enthält auch die frühen Statuten seit der Magna Carta (die in diesem Fall als erstes
Statut angesehen wird).
30 Die englischen Statuten wurden in sogenannten Statutenbüchern (Statute Books) überliefert,
vgl. dazu zuletzt: Don C. Skemer, Reading the Law: Statute Books and Private Transmission of
Legal Knowledge in Late Medieval England, in: Learning the Law. Teaching and the Transmis-
sion of the Law in England 1150-1900, hg. von Jonathan A. Bush/Alain Wijfels, London/Rio
Grande 1999, S. 113-131.
31 Vgl. dazu die Rotuli Parliamentorum; ut et petitiones, et placita in Parliamento, Bd. 3, London
1771, S.229-238.
32 Vgl. dazu die Einleitung der Ausgabe von Pronay/Taylor, Parliamentary Texts of the Later
Middle Ages (wie Anm. 14), besonders S. 18-21 u. 49-51.
33 Zum Reichstag vgl. etwa Gabriele Annas, Hoftag - Gemeiner Tag - Reichstag. Studien zur
strukturellen Entwicklung deutscher Reichsversammlungen im späten Mittelalter (1349-
1471), 2 Bde. (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie
der Wissenschaften 69), Köln 2004; Deutscher Königshof, Hoftag und Reichstag im späteren
Mittelalter 2002, hg. von Peter Moraw (Vorträge und Forschungen 48), Stuttgart 2002; Paul-
Juristen überliefert, die diese Texte in der Ausübung ihrer Tätigkeit vor Gericht
benötigten, es gab keine offizielle Sammlung der »Statutes of the Realm«.29 An-
ders als die Goldene Bulle, die durch das kaiserliche Siegel zu einem normativen
Text von höchstem Rang erhoben wurde, waren diese englischen Texte über die
Verfahrensweise des Parlaments eher private Aufzeichnungen, die durch die
Bewährung im politischen Prozess Bedeutung und schließlich Verbindlichkeit
erhielten (damit in gewisser Weise den Texten aus der Anfangsphase des ka-
nonischen Rechts vergleichbar).30 Der politische Prozess war dabei wiederholt
ein so spannungsreicher Vorgang, dass das Zeremoniell in den Hintergrund
gedrängt wurde. Das Gedränge in der white chamber von Westminster, das die
Kulisse für das Vorgehen der Gegner Richards II. gegen die Berater des Königs
1388 bildete, war in keiner Sitzordnung vorgesehen. Aber hier stand zu viel
auf dem Spiel: die angeklagten Berater wurden hingerichtet.31 Das Geschehen
war durch die widerstreitenden Kräfte zu bewegt, so dass es sich nicht in die
abgeklärten Bahnen eines bewährten Ablaufs fügte.
In dieser Phase, in der das Parlament mit schließlichem Erfolg um sein
Selbstverständnis rang, entstand noch kein ritualisierter Ablauf in festen For-
men. Darin war das englische Geschehen der Papstwahl auf dem Konstanzer
Konzil, die wir eingangs angeführt haben, in gewisser Weise vergleichbar. Die
Formen kamen, als die politischen Ansprüche dieser Versammlung des König-
reichs einigermaßen geklärt waren - im späten 15. Jahrhundert wird etwa die
Überlieferung des Modus tenendi Parliamentum breit und lässt dieses Formenin-
teresse erkennen.32 Im Reich konnte sich dieser Formalisierungsprozess, der in
hohem Maße ein Rezeptionsprozess der Goldenen Bulle war, ohne dauernde
Erprobung im politischen Alltag vollziehen. Dieser Prozess war im späten 14.
und im 15. Jahrhundert ein durchaus abstrakter Vorgang, der sich den Niede-
rungen der Bewährung im Konflikt der Interessen nur begrenzt aussetzte. Als
der Reichstag dann schließlich als Institution im späten 15. Jahrhundert zu ei-
ner realen Erscheinung der Reichspolitik wurde, waren die Verfassungskämpfe
bereits ausgekämpft.33 Die Strukturen waren weitgehend klar. Das Zeremoniell
29 Die Sammlung The Statutes of the Realm. Printed by command of His Majesty King John the
Third, in pursuance of an address of the House of Commons of Great Britain, 1-11, London
1810-1828, enthält auch die frühen Statuten seit der Magna Carta (die in diesem Fall als erstes
Statut angesehen wird).
30 Die englischen Statuten wurden in sogenannten Statutenbüchern (Statute Books) überliefert,
vgl. dazu zuletzt: Don C. Skemer, Reading the Law: Statute Books and Private Transmission of
Legal Knowledge in Late Medieval England, in: Learning the Law. Teaching and the Transmis-
sion of the Law in England 1150-1900, hg. von Jonathan A. Bush/Alain Wijfels, London/Rio
Grande 1999, S. 113-131.
31 Vgl. dazu die Rotuli Parliamentorum; ut et petitiones, et placita in Parliamento, Bd. 3, London
1771, S.229-238.
32 Vgl. dazu die Einleitung der Ausgabe von Pronay/Taylor, Parliamentary Texts of the Later
Middle Ages (wie Anm. 14), besonders S. 18-21 u. 49-51.
33 Zum Reichstag vgl. etwa Gabriele Annas, Hoftag - Gemeiner Tag - Reichstag. Studien zur
strukturellen Entwicklung deutscher Reichsversammlungen im späten Mittelalter (1349-
1471), 2 Bde. (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie
der Wissenschaften 69), Köln 2004; Deutscher Königshof, Hoftag und Reichstag im späteren
Mittelalter 2002, hg. von Peter Moraw (Vorträge und Forschungen 48), Stuttgart 2002; Paul-