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Moderne Bauformen: Monatshefte für Architektur und Raumkunst — 9.1910

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Nr. 1
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Klopfer, Paul: Zur Kritik des Kunstgewerbes
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https://doi.org/10.11588/diglit.24106#0013

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ix (MODERNE BAUFORMENi '

ZUR KRITIK DES KUNSTGEWERBES

VON DR. ING. PAUL KLOPFER, STUTTGART

Das Eine wissen wir: die Künste leben heute nicht
bloss auf, sondern sie nähern sich einander
wieder. Das letztemal war es, als Michelangelo dem
Sankt Peter die Riesenkuppel gab. Dann folgte jene
Spaltung in willkürliche und gelehrte Kunst, und
der Subjektivismus auf der einen, der Akademismus
auf der andern Seite zersplitterten das Ganze so
gründlich, dass am Ende sogar die Baukunst sich
selbst in eine ästhetische und eine technische Bau-
kunstscheiden musste— soetwaum 1800herum. Als
wenn ein neues Fluidum oder Scheidewasser in die
Mischung gegossen worden wäre, die schon anfing,
trüb zu werden: so zeigten sich die Niederschläge:
hier Bauästhetik, hier Bautechnik. Malerei und
Bildhauerei waren lange vorher schon eigene Wege
gegangen. V

V Heute aber, wie gesagt, finden sich die bilden-
den Künste wieder zusammen — und auch Malerei
und Plastik bleiben nicht mehr „rein“, sondern
werden „angewandt“, ordnen sich dem Kanon der
beherrschenden Bautechnik unter womit nicht
gesagt sein soll, dass sie nicht auch Werke für sich,
rein ästhetische Spekulationen also, schaffen könn-
ten, meinetwegen Galeriebilder und Ausstellungs-
plastiken. V

V Unsere Zeit aber erkennt auf jeden Fall die
Macht des Raumes als tonangebend an, und will
ein Zimmer nicht mehr erst aus vier Wänden,
Decke und Fussboden gebaut wissen, um es dann
zu schmücken, sondern will Umfassung und Inneres
zugleich entstanden sehen, wie sich ein leben-
diger Körper bildet, organisch. Und auch die
Hausgebilde sollen so wachsen, gleichsam von Innen
nach Aussen heraus, und nach dem Bedürfnis der
Bewohner. Und der Bewohner erkennt dieses „ge-
wachsene“ Haus als schön an, auch wenn die Sym-
metrieachsen und die palladianischen Verhältnisse
daran fehlen. Darauf kommt es, das weiss er nicht
nur, sondern er empfindet es auch, garnichtmehr
an. Der wirtschaftliche Zweck der Baukunst
ist erreicht — ob nun noch ästhetische An-
forderungen gestellt werden, ist, wie wir am Ende
sehen werden, bei aller angewandten Kunst Sache
des Besitzers, oder sollte es zum mindesten sein. V
V Nach der Ueberfüllung mit jenem Kunstformen-
kram, der ein ästhetisches Gewissen in unseren
Tagen nicht schlafen lässt, hat man die sogenannten
„schönen Künste“ etwas satt bekommen. Man
möchte einmal nicht altflämisch oder jugendstilis-

tisch sitzen, sondern vor allem bequem. Daher die
Vorliebe für den praktischen Engländer heute, wie
damals die Verehrung für die Pariser Maskerade. V

V Freilich soll’s mit der Erfüllung wirtschaftlich-

technischer Postulate allein eben doch noch nicht
getan sein. Im ganzen, unendlich grossen Gebiete der
angewandten Kunst: vom Warenhausbau bis zum
Fingerring spielt neben der wirtschaftlichen Frage
nach dem wozu, noch die ästhetische, wenn nicht
der Begriff des „Kunstgewerblichen“ oder „Bau-
künstlerischen“ verloren gehen soll. Aber je nach-
dem wird die eine Frage vor der andern eingehen-
der zu beantworten sein. Als Beispiele dafür möchte
ich anführen etwa eine Taschenuhr, mit vorwiegend
wirtschaftlich - technischer Tendenz, und nahezu
ohne Schmuckbedürfnis, und dagegen vielleicht einen
Pokal, als Ehrenpreis, wie ihn Vereine geben, mit
minimal wirtschaftlicher und hervorragend ästheti-
scher Tendenz (da er nicht als Trinkgefäss, son-
dern als Schmuckstück gefertigt wurde). In der
Baukunst stellt sich der griechische Tempel mit
seiner Bedürfnislosigkeit an Raum diametral gegen-
über der Hagia Sofia, deren Aeusseres gänzlich bar
ist aller ästhetischen Arbeit, dafür aber an Raum-
grösse und Schönheit in wirtschaftlicher Be-
ziehung für alle Wölbkunst des Abendlandes, ja
mittelbar für die gotischen Dome vorbildlich ge-
worden ist. V

V Was ausserhalb der Grenzen liegt, in denen sich
beide Fragen, technische und ästhetische, begegnen,
gehört entweder dem Gebiete der Wissenschaft
(Maschinenbau, Brückenbau, Eisenbahnbau) oder
der reinen Kunst an; im einen Falle wird ledig-
lich die wirtschaftliche Forderung zu erfüllen ge-
sucht, im andern lediglich die ästhetische*). V

V Für den Kunstkritiker ist es nun ausserordent-
lich interessant, aus Stilproben gegenwärtiger wie
auch vergangener Zeiten das jeweilige Verständnis
des Künstlers für die wirtschaftliche Forderung
eines Gegenstandes — sei es eines Hauses, eines
Möbels oder eines Kleidungsstückes abzuleiten.
Ein Vergleich beispielsweise zwischen einer Ritter-
rüstung von 1500 und einem Stuhle aus derselben
Zeit spricht deutlich genug: In der Rüstung: Raffine-

*) Hierbei sei bemerkt, dass Material und Konstruktion bei
allem Bilden ebenfalls eine Rolle spielen, die aber nicht mit der
wirtschaftlichen Tendenz übereinzustimmen braucht (in der Malerei
spielt die Technik, in der Plastik das Material eine Rolle, die nicht
konform ist mit den — hier rein ästhetischen — Zwecken).

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