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Moderne Bauformen: Monatshefte für Architektur und Raumkunst — 10.1911

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Nr. 2
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Baer, Casimir Hermann: Neuere schweizerische Architektur
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https://doi.org/10.11588/diglit.24589#0085

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X MODERNE BAUFORMEN 2

NEUERE SCHWEIZERISCHE ARCHITEKTUR

Nur wenige wissen, dass die Schweiz, deren überwältigende
Naturschönheiten fast jedermann kennt, auch eine eigene
lebendige Kultur und Kunst besitzt. Das hängt damit zu-
sammen, dass der alljährlich wiederkehrende Strom auslän-
discher Gäste sich daran gewöhnt hat, den Begriff Schweiz
allein mit den Eindrücken zu identifizieren, die er an den
internationalen Kur- und Fremdenplätzen des Landes gewinnt.
Und dann ist auch der Schweizer selbst nicht wenig daran
schuld. In seiner mässigenden Bescheidenheit und in seiner
durch jahrhundertelange Abgeschlossenheit hervorgerufenen
schwerfälligen Zurückhaltung verbirgt er seine Originalität,
die in einer bürgerlich radikalen und besonnenen Demokratie
wurzelt und das vielgestaltige Land zu festgefügter Einheit
zusammenschweisst. Er liebt es nicht, von sich und seinen
Arbeiten viel Wesens zu machen; in überaus regem Heimats-
bewusstsein betrachtet er all sein Tun als selbstverständlich
im Interesse seines Vaterlandes geschehen. V

V Gleichwohl verdient die Kunst der Schweizer regere Auf-
merksamkeit ; ihre Voraussetzungen sind teilweise günstiger
als anderswo, ihre Entwicklungsmöglichkeiten infolge der
Vielgestaltigkeit des Landes und seiner Bewohner mannig-
faltig und die Ergebnisse infolge davon fast alle von über-
raschender ansprechender Eigenart. Bei ihrer natürlichen,
manchmal fast derben Frische ist schweizerische Kunst nie-
mals uninteressant und stets voll genussreicher Anregungen.
V Literatur, Malerei und Plastik der Schweiz finden ausser-
halb der Landesgrenzen mehr und mehr aufmerksame Beach-
tung; moderner schweizerischer Baukunst ist das vorliegende
Heft gewidmet. Es will in zwangloser Folge und ohne An-
spruch auf erschöpfende Vollständigkeit zeigen, dass man
auch in diesem schönen Lande allenthalben eifrig am Werke
ist, neuzeitliche Bauprobleme in einer Art zu lösen, die zu-
gleich Fortschritt und ästhetische Befriedigung gewährt.
V Die Eidgenossenschaft wird zur Zeit von wirtschaftlichen
Fragen beherrscht; demzufolge sind es Architekturprobleme
dieser Art, von der Arbeiterwohnung bis zum Städtebau,
von der Schule bis zum Geschäftshaus und Hotel, die Volk
und Künstler bewegen. Der repräsentative Monumentalbau
kirchlichen wie profanen Charakters hat seinen massgebenden
Einfluss verloren; und die verhältnismässig spärlichen Auf-
gaben, die von der Zentralverwaltung des Landes, der Bundes-
regierung, gestellt werden, suchen deren geschmacklich rück-
ständige Organe unter möglichstem Ausschluss modern
denkender Baukünstler entweder durch alt gewordene Meister
der seligen Semperschule oder aber in starrem Schematismus
durch Schüler der Ecole des Beaux-Arts in Paris zu lösen.
Diese eidgenössischen Militär-, Post- und Verwaltungsgebäude,
die mit langweiligen Renaissancefassaden, Säulenstellungen,

flachen Dächern oder anspruchsvollen Kuppeln die heimeligen
hochgiebeligen Städtchen und Ortschaften der Landes ver-
unzieren, fallen für uns ausser Betracht; sie haben nichts
Schweizerisches an sich und sind künstlerisch unbedeutend.
Aber beklagen muss man es, dass die Millionen von Volks-
vermögen, die derlei Bausünden kosten, nicht nutzbringender
angelegt werden konnten. V

V Der katholische Kirchenbau bewegt sich in der Schweiz

noch immer in ausgelaufenen historischen Bahnen; gotische
Kathedralen und barocke Landkirchen, in denen bald mit
mehr bald mit weniger Geschick alte Formen nachempfunden
sind, liebt der Klerus. Erfreuliche Ausnahmen machen die
Kirchenbauten der Architekten Curjel & Moser (Karlsruhe
und St. Gallen) in Zug und Zürich, die Kapellen Paul
Siegwarts (Aarau) und die mit ganz geringen Mitteln
erbaute Kirche der Architekten Schäfer & Risch (Chur)
in Landquart, die mit dem Pfarrhaus zu reizvoller Gruppe
vereinigt ist. Im protestantischen Kirchenbau wird
von den Architekten mit lebhafterer Unterstützung der Geist-
lichkeit nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten gesucht. Bei den
Landkirchen, die Indermühle (Bern), Curjel & Moser,
Bischoff & Weideli (Zürich), wie Rittmeyer & Furrer
(Winterthur) an zahlreichen Orten erbaut haben, ist mit viel
Glück an gute alte Ueberlieferungen angeknüpft worden.
Für den Bau moderner protestantischer Stadtkirchen haben
Curjel & Moser in der Pauluskirche in Bern undPfleg-
hard&Haefeli (Zürich) in der Kirche zu Zürich-Oberstrass
vorbildliche Beispiele geschaffen. V

V Gegenüber der Schwerfälligkeit der eidgenössischen Bau-

direktion zeigen die kantonalen und kommunalen Behörden
selbst kleinerer Gemeinden ein erfreuliches Verständnis für
die Forderungen neuzeitlicher Baukunst. Das beweisen vor
allem die zahllosen bescheideneren und umfangreicheren
Schulhausbauten, die sich praktisch und schön zumeist treff-
lich dem vorhandenen Ortsbild einfiigen. Aber auch andere,
öffentlichen Zwecken dienende Bauten, wie die vom Stadt-
bauamt erbauten neuen Waisenhäuser in Zürich, das Ober-
gerichtsgebäude der Architekten Bracher, Widmer&Daxel-
hofer in Bern, das Theater und das St. Franziskusheim in
und bei Zug von Keiser & Bracher (Zug), das Volkshaus
in Zürich von Streift & Schindler (Zürich), das Kunst-
haus in Zürich der Architekten Curjel & Moser und das
Segantini-Museum in St. Moritz, das Nicol. Hart mann & Cie.
(St. Moritz) schufen, sind Bauwerke, die als achtungheischende
Fortschritte bezeichnet werden müssen. V

V Doch in all dieser mannigfaltigen Bauarbeit liegt noch
nicht der Schwerpunkt neuzeitlicher schweizerischer Baukunst;
denn die Erkenntnis von der nationalen Wichtigkeit einer

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