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Moderne Bauformen: Monatshefte für Architektur und Raumkunst — 10.1911

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Nr. 2
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Baer, Casimir Hermann: Neuere schweizerische Architektur
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https://doi.org/10.11588/diglit.24589#0086

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Neuere schweizerische Architektur

allen praktischen und ästhetischen Forderungen entsprechen-
den Wohnungsmöglichkeit hat die vorhandenen Kräfte genötigt,
sich in erster Linie mit solchen Fragen eingehend zu beschäf-
tigen. Die Ergebnisse sind aller Beachtung wert und um so
erfreulicher, als die jungen Architekten bei der Suche nach
neuen Ausdrucksmöglichkeiten ganz auf sich selbst, höchstens
noch auf die vorbildliche Tätigkeit einiger süddeutscher
Meister angewiesen waren; in fortgesetztem, oft aufreibendem
Kampfe mit den Anschauungen älterer, auch die Bauschule
des eidgenössischen Polytechnikums völlig beherrschender
Fachgenossen mussten sie sich Schritt für Schritt den Boden
für ihre Tätigkeit erringen. Allerdings fanden sie nach
dem überzeugten Bruch mit jenen klassizistischen Idealen,
die gerade im Hausbau in der Schweiz von verhängnisvollstem
Einfluss waren, in der fast überall im Lande noch lebendigen
alten Bautradition einen festen Grund, und in der verständ-
nisvollen Propagandatätigkeit der schweizerischen Vereinigung
für Heimatschutz einen wertvollen Bundesgenossen, der un-
ermüdlich weiteste Kreise des Publikums auf die in der
Harmonie mit Zweck und Umgebung beruhende Schönheit
alter Kleinbauten aufmerksam macht. Und da die Leiter des
schweizerischen Heimatschutzes nie zu betonen vergessen,
dass alte Bautraditionen nicht kopiert, sondern erkannt und
den modernen Anforderungen entsprechend umgewandelt
werden müssen, haben sie es ermöglicht, dass selbst Meister,
die für neue Materialien und noch nie dagewesene Zweck-
forderungen völlig neue Bauformen zu schaffen bemüht sind,
zu ihren Führern und Anhängern gehören. Dass andererseits
dort, wo sich die noch immer vorhandene Zweckmässigkeit
alter bewährter Baugedanken herausstellt, ihre überlegte
Wiederverwendung begriisst wird, ist selbstverständlich;
wenn das künstlerisch unverständige Bauleute veranlasst,
ihre Spekulationsobjekte nun im „Heimatsschutzstil“ zu er-
bauen, erscheint mir das weniger schlimm, als wenn jene
immer und überall vorhandenen Pfuscher dem „Jugendstil“
treu geblieben wären. V

V Man lebt in der Schweiz in einem rauhen Klima mit
ziemlichen Gegensätzen in der Sommer- und Wintertempe-
ratur, mit reichlichen Niederschlägen und vielen unfreund-
lichen, windreichen Tagen. Daraus ergibt sich mit zwingender
Notwendigkeit das Haus mit beherrschendem Dach, das in
tausenderlei Gestaltungsmöglichkeiten in heissen Tagen
schattige Kühle, im Winter wohnliche Wärme, immer aber
traute wohlige Behaglichkeit verspricht. Eine Folge des
bürgerlichen Daches ist der Giebel, vom reizvollen Dach-
erker bis zum hohen mehrgeschossigen Aufbau über der Fas-
sadenbreite; er erscheint wie das Auge des Hauses, das
verheissend einen Teil von all der Gemütlichkeit ahnen lässt,
die ein solch behäbiges, dachgeschütztes Heim birgt. Die
Schweiz ist im Sommer wie im Winter voll Farbenfreudig-
keit: Weiss, Blau und Grün in den verschiedensten Ton-
werten, immer aber kräftig und eindringlich klar, beherrschen
das Landschaftsbild; diesem bunten Zusammenklang ist jeder
Neubau einzupassen, der mit ihm zu einem Ganzen ver-
wachsen will. So erscheinen Dach, Giebel und Farbigkeit

als das, was das neuzeitliche Schweizer Bürgerhaus charak-
terisiert; wo sie fehlen ist entweder fremdländischer Einfluss
übermächtig massgebend gewesen oder das Bestreben, bürger-
liches Wesen durch eine dem Schweizer fremde Herrschaft-
lichkeit zu übertrumpfen. y

V Das zunehmende Verständnis des Publikums für heimischen

Wohnhausbau blieb nicht ohne Einfluss auf alle übrige bürger-
liche Bautätigkeit. Beim Geschäftshausbau, ja selbst beim
Fabrikbau wurde mehr und mehr erkannt, dass es auch
ohne sentimentale Anklänge an Mittelalter und Romantik
möglich ist, aus den praktischen Forderungen heraus und
mit neuesten Materalien ästhetisch Befriedigendes zu schaffen,
was Strasse und Landschaft ziert, ohne seine Zweckbestim-
mung zu verleugnen. Am hartnäckigsten wehrten sich die
Hoteliers gegen das Aufkommen der neuen Bauanschauungen.
Es schien ihnen unmöglich, vom beliebten Riesenkastensystem
mit Gips- und Zinkornamenten-Prunk und unbenutzbaren
Baikonen vor jedem Fenster, abzuweichen. Denn die Fremden
wollen das, sagten sie. Als dann aber die wohnliche Behag-
lichkeit neuerer Gasthausbauten, so der Hotels, die Nicol.
Hartmann & Cie. im Engadin und Lanzrein&Meyer-
hofer (Thun) am Thunersee errichtet haben, beim reisenden
Publikum mehr und mehr Anklang fand, erschienen selbst
diese gewiss nicht ganz unberechtigten Befürchtungen wider-
legt; und heute dürften auch im Hotelbau die neuen An-
schauungen ausschlaggebend geworden sein. V

V Der Schweizer steht wie einst so noch heute im Banne

der gewaltigen Natur seiner Heimat. Er erkennt willig an,
dass er sich unterordnen muss in all seinen Werken, die er
in die Täler und zwischen die Bergriesen des Landes stellt.
Daher fehlt seiner nationalen Architektur, auch bei den
allerdings selteneren grossen Aufgaben, der monumentale Zug;
schlichte Behäbigkeit, wohlhabende Breite im Aeussern, wohn-
lich warme, ruhig und beschaulich ausgestattete Stuben und
Zimmer im Innern charakterisieren die bürgerlichen Bauten,
die im modernen schweizerischen Architekturbilde eine so
ausschlagende Rolle spielen. Es entspricht das auch völlig
der Eigenart des Schweizers, der keinen Sinn hat für prunk-
volle Repräsentation, aber unter anspruchsloser Aussenseite
ein tiefes Innenleben birgt und bei aller mutvollen Energie
doch nicht frei ist vor ängstlicher Furcht gegenüber allzu-
gewagt erscheinenden Unternehmungen. y

y So hat die schweizerische Baukunst von heute die leben-
dige Fühlung mit der Vergangenheit und den künstlerischen
Ausgleich mit den praktischen Forderungen der Gegenwart
gefunden, hat sich jene Harmonie errungen, die auch den
bescheidensten Bau zum Kunstwerke zu machen vermag und
verdient deshalb, dass man sie neben ihren Schwesterkünsten
nicht vergesse. Ihre allgemeinere Bekanntgabe wird aber auch
wesentlich dazu beitragen, dem Ausländer das eigentliche,
niemals verlorene und unverwüstliche schweizerische Volks-
tum näher zu bringen und ihn vielleicht veranlassen, in
Achtung vor solch ungeschwächter Kulturkraft die Schweiz
auch wirtschaftlich und politisch mit etwas anderen Augen
zu betrachten. C. H. BAER.
 
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