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Moderne Bauformen: Monatshefte für Architektur und Raumkunst — 13.1914

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Mai
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Baer, Casimir Hermann: Die Architekten Schlösser & Weirether, Stuttgart
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https://doi.org/10.11588/diglit.48542#0301

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Das Schloß der Freifrau von Reitzenstein zu Stuttgart. — Die Einfahrt mit den Wirtschaftsgebäuden

DIE ARCHITEKTEN SCHLÖSSER & WE1RETHER, STUTTGART

Eine jede Zeit schafft sich ihren Typus, baut sich
ihr Wohnhaus. Auch das Haus früherer Jahr-
hunderte weist nicht allein durch die formale Ge-
staltung der Einzelglieder auf seine Epoche. Schon
die Art, wie es seine Räume formt und zu einer
Gesamtheit vereint, wie es an der Straße und im
Stadtbild steht, sagt deutlich, wohin es gehört.
Unserer Zeit ist eine merkwürdige Mischung
verträumten Rückwärtsschauens und zielbewußten
Vorwärtsblickens eigen. Wir wünschen in unserer
Wohnung allen Komfort der Neuzeit, dazu Deutlich-
keit und Klarheit, und fühlen uns doch nur wohl,
wenn ein Schimmer romantischer Vergangenheit
unsere Stuben verklärt, unsere Häuser heimelig
macht. Wir sind äußerlich ganz modern, tüchtig,
großartig, oft selbstsüchtig und brutal, und doch
innerlich voll Zweifel, ohne sicheren Glauben an die
Gegenwart, ohne die Fähigkeit sich des Augenblicks
harmlos zu freuen, stets voll unbestimmter Sehn-
sucht nach jener behaglichen Ruhe und abgerundeten
Schönheit, die uns die Zeiten unserer Väter so
begehrenswert und glückbringend erscheinen lassen.
Und so sind wir, je moderner wir werden, desto
abhängiger von der Vergangenheit.
Seit der Renaissance bis zum Ende des XIX. Jahr-
hunderts beherrschte die Menschheit der historische
Sinn. Und heute, nach einer kurzen Zeit absicht-
lich gewollter neuer Kunst, in der es Pflicht schien,
sich jede auftauchende Strömung mit nervöser
Anpassungsfähigkeit anzueignen, kehren wir lang-

sam wieder dazu zurück, das von unseren Vätern
Geschaffene zu verehren und als mustergültig zu
preisen. Allerdings nicht so wie früher.
Die eingehende Beschäftigung mit den Stilformen
vergangener Jahrhunderte hat uns ihre besonderen
Ausdrucksmöglichkeiten gezeigt und uns gelehrt,
sie modernen Zwecken dienstbar zu machen. Wir
bauen nicht mehr gotisch, barock oder in deutscher
Renaissance, aber wir verwenden alle Formen dieser
Stile entsprechend ihrem Stimmungsgehalt in mo-
derner Verarbeitung und geschmackvoller Ver-
einigung. Und solange wir in unseren sozialen,
politischen und ästhetischen Anschauungen noch
so enge mit unserer Vergangenheit verknüpft
bleiben, werden wirklich neue Ausdrucksformen
von bleibendem Werte kaum entstehen können.
Die übrigen Künste sind der Architektur voraus.
In der Malerei, in der Musik wie in der Dicht-
kunst bereitet sich etwas Neues vor; in der Bau-
kunst aber gibt es zunächst nur die aus natura-
listischen Tendenzen heraus geborenen Formen
des modernen Zweckbaues, die neu sind, sich aber
auf Wohnhäuser nicht anwenden lassen. Erst ein-
schneidende soziale Umwälzungen wären imstande,
auch für die Architektur völlig neue Ausdrucks-
formen zu schaffen. Und es ist sicher, daß diese
neue Wirklichkeit nicht mehr lange auf sich
warten läßt; gerade die ungeheueren Umwand-
lungen der Realität ermöglichen eine neue Schaffens-
zeit der Phantasie.

MOD. BAUFORMEN 1914. Mai. 1.

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