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Neutsch, Bernhard [Hrsg.]; Hafner, German [Mitarb.]
Die Welt der Griechen im Bilde der Originale der Heidelberger Universitätssammlung: Katalog der Jubiläumsausstellung zur 100-Jahr-Feier der Sammlungen des Archäologischen Instituts Heidelberg im Sommersemester 1948 — Heidelberg, 1948

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https://doi.org/10.11588/diglit.28105#0021
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DAS BILD DES MENSCHEN

„Das eigentliche Studium der Menschheit ist der Mensch.“ Dieses Wort
Goethes aus den Wahlverwandtschaften könnte auch ein Grieche gesprochen
haben. Es hat im besonderen Sinne Gültigkeit für die griechische Kunst.
Standen in der kretisch-mykenischen Kunst Natur und Mensch gleichbe-
rechtigt nebeneinander, so ist hier allein der Mensch im Brennpunkt künst-
lerischen Schaffens. Immer geht griechische Phantasie vom Bilde des Men-
schen aus. Sie personifiziert Naturerscheinungen, Begriffe und Gefühle.

Berge und Bäume, Morgenröte und Winde, Sieg und Friede, Liebe und
Sehnsucht macht sie in Menschengestalt sinnfällig. Das gleiche gilt von den
Göttern, wie umgekehrt auch früh das Göttliche in der Erscheinung des
Menschen empfunden wird. „Göttergleich“ und „göttlich“ nennt bereits
Homer seine Helden, und beim Anblick der strahlenden Schönheit Helenas
läßt er die Troer einander zuraunen: „Einer unsterblichen Göttin, fürwahr,
gleicht jene von Ansehn.“ (Ilias III 158).

In der bildenden Kunst ist die Verflechtung des erhabenen Bildes der
Gottheit und des von göttlicher Anmut erhöhten Menschenbildes so eng, daß
man beispielsweise bei den berühmten Jünglingsstatuen, den „Apollines“,
nicht ohne weiteres entscheiden kann, ob tatsächlich ein Apollon oder ein
Kuros (Jüngling) dargestellt ist.

Griechischer Kunst ist es in leidenschaftlichem Bemühen und in einem
schöpferischen Vorgang ohnegleichen gelungen, das im eigentlichen Sinne
europäische Menschenbild zu prägen. Sie führte es mit erstaunlicher Folge-
richtigkeit vom zeichenhaften „Denkbild“ zur leibhaften Gestalt, vom stren- Abb. 7
gen, von außen auferlegten Gesetz zur Freiheit, die das Gesetz in sich selbst Abb u
trägt. Sie schuf damit aus einer inneren Schau heraus das Bild eines an 1S12
Körper, Geist und Seele vollkommenen Menschentums, das in der Harmonie
von Bindung und Freiheit Teil oder Ausdruck einer höheren göttlichen Ord-
nung ist — gleichsam die Idee des Menschen im platonischen Sinne. Der
Anruf dieses Menschenbildes wurde in den entscheidenden Phasen des euro-
päischen Kulturdaseins stets vernommen, erst recht in Zeiten der Not und
geistigen Ratlosigkeit. Solange es eine abendländische Menschheit gibt, wird
sie sich mit ihm auseinandersetzen und darin Erlebnis, Mahnung und Klä-
rung für das eigene Dasein finden.

Das Wesen griechischer Menschenbilder und ihr Schöpfungsprozeß spiegelt sich
am klarsten in der großen Plastik. Beides läßt sich eindrucksvoll auch aus den
Werken der Kleinkunst ablesen.

Unsere Zusammenstellung bietet dem Beschauer die Möglichkeit, charakte-
ristische Züge einzelner Epochen kennenzulernen. Er kann aber auch der Ent-
wicklung eines Motivs durch mehrere Zeitabschnitte folgen.

So fügen sich die stehenden oder sitzenden Kleinplastiken früher Kultidole (Nr. Abb. 11
3—5) mit dem Vasenbild eines Kriegers (Nr. 6) zu einer einheitlichen Aussage über Abb. 7
das Wesen des geometrischen Menschenbildes zusammen. Der „geometrische“ Künst-
ler, der das menschliche Bild neuentdeckt, gestaltet nicht nach der objektiven Wirk-

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