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Vöge, Wilhelm; Panofsky, Erwin [Bearb.]
Bildhauer des Mittelalters: gesammelte Studien — Berlin, 1958

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https://doi.org/10.11588/diglit.31190#0085
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Zur frühgotischen Plastik Frankreichs

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Architektur. Merkwürdig auch auf dieser Stufe die An-
klänge an Griechisches, obwohl sich die französische
Kunst unter ganz anderen Voraussetzungen entfaltet!

Doch steht dies alles nun nicht im Widerspruch zu dem,
was vorhin von der Wendung zum Lebensvollen in der
Erfindung gesagt ist? Gewiß, hier ist ein Widerspruch,
aber nur, weil die Gotik selbst das (in seinen Extremen)
sich Widersprechende zuvereinigen trachtete. Darum hat
ihr Stil eben bei aller Strenge und Feierlichkeit doch
nichts Lebloses. Darum war es ihr andererseits allerdings
auch nicht beschieden, einen so entscheidenden Erobe-
rungszug in Natur und Welt zu thun wie das Cinque-
cento. Sie hätte Fliigel nehmen miissen, um damit auf die
Erde niederzusteigen.

Aber daß es ihr überhaupt an Scharfäugigkeit gemangelt
habe, kann man angesichts eines Kopfes wie des S. 155
Abb. 10 gegebenen nicht sagen. Hier ist liebevolles Ein-
gehen auf das Individuelle eines bestimmtenModells. Der
Kopf wiirde neben manchen Cinquecento-Biisten vielleicht
nicht einmal sehr verlieren. Er wiirde einen zarteren Ein-
druck machen. Aber die größere Zartheit ist eben dem
Modelle eigen. Der Franzose ist feiner gebaut als der Ita-
liener. DieBrutalität italienischer Söldnerführer und Ban-
kiers muß man hier schon um deswegen garnicht suchen.

Die Gotik gönnt schon zur Zeit der Herrschaft des Feier-

Stellen bringend, wo der Eindruck des Ganzen nicht in
Frage ist, wie in den kleinen, durch festes Rahmenwerk
gleichsam isolierten Reliefs der Sockel u. s. w., oder auch als Kontrast gegen das dominie-
rende Ruhevolle. Jenes in ihr liegende Doppelstreben mußte mit der Zeit zu stärkeren
Kompromissen führen, zuZugeständnissen, die in gewissem Sinne eine Veränderung des
ursprünglichen Charakters bedingten : sie kam eben schließlich ihrerseits in das Fahrwasser
derjenigen provinziellen Richtungen, die sie ursprünglich bekämpft und verdrängt hatte;
sie nahm — auf einer höheren Stufe der Naturanschauung und Technik — ähnliche Ten-
denzen auf wie jene: sie ward bewegt. Doch ihr Ziel ist auch jetzt feinstes, feinfühligstes
Zusammenstimmen des Plastischen mit dem Architektonischen, und im Grunde war der
Übergang zum mehr Malerisch-Freien, Liebenswürdig-Lebhaften nur ein Anpassen der
Bildnerei an den verfeinerten, bewegteren Stil der Baukunst. Aber diese Bewegtheit be-
steht zudem auch nicht in einem freien Ausgreifen der Glieder, sondern gerade das Ge-
bundene, Rhythmische ist charakteristisch wie friiher schon. Ihre Figuren bewegen sich
wie nach den Gesetzen eines gesellschaftlichen Anstandes, oft wie im Tanzschritt.

Es ist der gotische »Schwung«, der auf einem rhythmischen Wechsel (und Ausgleich!)
von Bewegung und Gegenbewegung beruht. Das Kapitel von der gotischen Bewegung
ist verknüpft mit dem von der gotischen Falte; gesagt sei hier, daß sich die französische
Gotik nur zögernd auf einen »Gesamtschwung« der Gestalten eingelassen hat. Doch

lichen auch dem Bewegteren seinen Platz, es gern an

4. Amiens, Kathedrale.
Südl. Westportal, Hl. Firmin
 
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