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Heidelberg, Samstag, 36. Sept. 1922
Nr. 228 * 4. Jahrgang
Verantwort!.: Für innere u. äußere Politik, Volkswirtschaft «.Feuilleton:
Dr. E. Kraus; für Kommunales, soziale Rundschau und Lokales:
O.Geibel; für die Anzeigen: A. Friedmann, sämtl. in Heidelberg-
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Die Apologie des Er-Kaisers.
Der Dollarvertrag. — Wilhelm II. Rede vor dem Spiegel. — Der
Dtahlengel mit dem Oelzweig. — Drolerien und Uevcrraschmrgen.
— Eine Krone als Wasserzeichen.
Wir entnehmen folgende Ausführungen der „Neuen
Züricher Zeitung", die in ihrer geistvollen Art besser
als jede andere Bnchkr-itik, die in diesen Tagen in fast
allen Weltsprachen erscheinenden Erinnerungen Kaiser
Wilhelm II. illustrieren. Die Apologie des Ex-Kaisers
in der „N. Z. Ztg." ist geschrieben „Von einem Deur-
schen" und lautet:
Die numerierte Luxus-Ausgabe auf echtem Büttenpapier, mit
dem Namenszug als Wasserzeichen gedruckt, in Pergamenit 2500 M."
- Leipzig, K. F. Koehler, Verlag.
Die Kaiserkrone als Wasserzeichen, das ist das Shmbol des
Inches, Has soeben das Licht der Alten und der Neuen Welt er-
blickt, und der berühmte Dollarvertrag, der dem Autor heute rund
E0 Millionen Mark seines Reiches einträgt, ist der Zweck. Das
glotze Mitleid, mit dem viele Deutsche die „tragische Gestalt des
Kaisers" zu adeln suchen, vermögen wir. durch andere Objekte be-
ggspmcht, nicht aufzubringen: ihm geht es, scheint uns, erheblich
besser als der unabsehbaren Reihe von Männern und Frauen, die
der Krieg verstümmelt oder verwaist hat. Trotzdem hätte jeder be-
griffen, wenn ein von der gesamten nichtdeutschen Welt Beschuldig-
er zur Feder griff, um sich zu reinigen; natürlich, indem er seine
Motive rein erhielt, zugunsten jener schuldlosen Opfer. Doch der
letzte Hohenzoller rechnet, scheint es, lieber mit einer arideren Art
Kon „Millionen", die nicht stöhnt, sondern knittert.
Trotzdem hatten wir wenigstens aus die taktvolle Arbeit seines
orkorenen Dramaturgen gehofft, die dies ertragreichste Buch der
Geschichte auch anderen erträglich machen konnte; geschickte Hände
Hütten einen Mann mit seinem Widerspruch, einen Einsamen kon-
struieren kömren, der das Vergangene nur durchdenkt, der Mann
des Schicksals hätte erscheinen müssen, dessen Seelentönen auch der
politische Gegner lauscht, nm den entmachteten Träger , ei lies Ge-
dankens zu ehren, dem einst die Grütze nicht fehlte. Loch er giaubre:
die Axt im Haus erspart Engeu Zimmermann, und schrieb, so
scheint es, im Gegensatz zu Kronprinz Nosner, meist selber. Als
bl apo (eon seine Memoiren schrieb — wenn man auch nur für
die Dauer eines Augenblicks diesen Vergleich wagen will —, da sah
chon einen bleichen Helden fiebernd seine kleine Stube, die enge
"oNfel abschreiten und Rechenschaft vor sich selber ablegen; neben
die stolze Darlegung ungeheurer Siege stellte er die Talente seiner
Gegner offen zur Schau, doch auch eigene Mißgriffe männlich zur
Kritik. So entstand eine Art Selbstgespräch vor dem Pho-
nographen. Wilhelms II. Buch gleicht in altem seiner Regierung:
es ist eine Rede vor dem Spiegel.
. Will >nan die Summe dieser fünfzehn Kapitel wissen? Nichts
w zg Fahre,: hat der Kaiser falsch gemacht, niemand verkannt,
wttner hat er kassaudrahaft vor den Fehlern seiner blinden Kanzler
gewarnt, vergebens: sie bezwangen ihn, bis er zähneknirschend
Ullterschrteb. Beweis: Bismarck verhinderte ihn im Amte an der
rechten Sozialpolitik, nach dem Sturze an der Auswirkung aller
seiner Ideen, Caprivi an der Erneuerung des russischen Vertrags.
Hohenlohe und Marschall zwangen ihn zur Krüger-Depesche, deren
verheerende Wirkung er angedroht hatte, Bülow nötigte ihn nach
Zanger, wohin er sehr contre coeur gegangen sei, und hinderte ihn
mcht am Interview mit „Daily Telegraph". Bethmann endlich,
tmmer Gouvernante und ihn ständig belehrend, habe trotz aller
Warnung des Kaisers den heraufziehenden Krieg nicht gesehen, ihn
an der Reform des Wahlrechts, an der Unterstützung von Tirpttz
verhindert; Prinz Max endlich zwang ihn gegen die heißesten
Wünsche seines Herzens zur Flucht.
, Soviel Behauptungen, soviel Verdrehungen — um das Wort
, >cht geradenwegs zu gebrauchen, -das die Historiographie bei inin-
- crer Stellung des Autors ihm entgvgenschlendern würdel Der
»A-Bismarck liegt weit komplizierter, und nichts kennzeichnet die
,.V«ksWbe" des Kaisers besser als sein Geständnis, den offenen
^RPf gegen die Sozialisten, den Bismarck wollte, habe er nur
aus politischer Nötigung zum Ausgleich nicht führen köMsm
»'r aste Fälle läßt er sich am Ende des Kapitels von den Arbei-
g. Erer Werft einen Lorbeerkranz für seine Sorgfalt überreichen.
^Emner ist schon, dich er nicht bloß Bismarck-Worte (den Ver-
Siegfried und Höd-ur mit der deutschen Geschichte) ohne
tvr, und zwar als jüngste Lesesrüchte zitiert, sondern ihm
, z-Lorte unterlegt, die er historisch und psychologisch nicht ge-
tagt habon kann.
vie-lni-^ E^'Nig hat Wilhelm den russischen Vertrag gewollt,
dcvekNi« persönlichem Haß verboten. Daß er die Krüger-
samrmm.'Est erfunden, bezeugt Gr Stil und Impuls, bezeugen
selvn c ""d mündliche Ueberlteserungen aller Beteiligten; doch
Fm , K liegen England — das echteste Gefühl dieses ans
..^Eeit komponierten, durch Eduard VII. in beiden
^"ksftwen Charakters — will er vom alten Hohenlohe
übernommen haben. Wie er nach Tanger verlangte
lim c» > 'kEcer nnd der Schimmel hochgingen), beschreibt -cmschau-
wi - mm°r sanfte Schoen, und was Bülow betrifft, so glauben
daß er demnächst selber sprechen wird, nachdem er,
ganr.» E, geM" den Kaiser, Vis jetzt geschwiegen hat. Di«
ken dreißig Jahren dort nirgends Verautwortlich-
stw man doch immer Glanz geerntet hatte, zeig»
rasch «och dem Zentrum die Schuld an Btt-
selber doch höchst erwünschten) Fall znschreibt und den
li>M feinen, aus alle Fälle verstorbenen Gmfen Hert-
Fvennd Bülows, noch im Jahre 1917 in Spa stolz er-
nten laßt, er habe Verdienste an Bülows Sturz.
e» man fMMn: war dieser Pseudo-Autokrat,
Mivsundzwanzig Jahre lrwg durch seine gepanzerte Friedens-
taube, durch seinen Stahlengel mit dem Oelzweig Europa in Er-
regung gehalten hat, nicht Manns genug, in den Momenten seiner
politischen Visionen allein zu entscheiden, und gegen seine Berater?
Hinderte ihn vielleicht eine vernünftige Verfassung, zn entlassen,
was ihm nicht mehr beliebte? Wer Bismarck mit einem Wink
fortjagen durfte, ver muhte Wittlich, wie er mehrmals wiederholt,
törichte Roten widerstrebend unterzeichnen? Fühlte er sich etwa
konstitutioneller als die Konstitution?
Man muß ihn nur als Landesvater hören, dann erst begreift
man, wie er sein Jahrhundert begriff. Bis 1918 hatte Preußen
ein Wahlrecht, das man in einer Republik wie eine alte Kanone
im Museum anstaunen würde: Drei Klassen, geordnet nach dem
Gelbe, was jeder besaß. Fünfundzwanzig Fahre lang vergebens
wiederholter Sturmlauf von links, der König als heftiger Gegner
jeder Gleichheit. Ms endlich der Krieg seine Todfeinde, die So-
zialisten, freudig unter die Fahne führt, fordert die Linke lallt und
energisch, was ihr längst .zukam und Was ihnen endlich eine «einzige
Geste bewilligen mutzte. Statt dies nun, spres tout, in ein Paar
schlichten Worten zn bestätigen, greift der Kaiser heute noch B-ech-
m-ann an, er habe seine guten Absichten verschleppt: denn schon
im ersten Kriegswinter habe er seinen tapferen Preußen, mit denen
er selbst vor dein Feinde gestanden habe, nach siegreicher Heimkehr
eine Bsloihnung spontan bereiten wollen, — dies alles in einem
falsch patriarchalischen Tone, der zwischen dem Großen Friedrich
und deni Sonnenkönig eine kuriose Mitte hält.
Ist also niemand, der vor seinem Wick besteht? Doch, Tir-
pitz, den er seines, auch nach der Abdankung noch kaiserlichen Dan-
kes versicherte, diesen alten, gefährlichen Se-enmnn empfiehlt er sei-
nem flottenlosen Vaterlande als einzigen, der ihm wieder W-fzn-
belf-m wüßte! Man Gürt, wohin die Rückreise gehen soll. Auch
sonst wird dies 9. Kapitel, das Heer und Flotte behandelt, mit sei-
nen« frisch-fröhlichen Kriegstempo die Herzen aller „ollen ehrlichen
Preußen" entzücken. Weit kürzer und viel komischer ist ein anderes
Kapitel gehalten, in dem Wilhelm das ästhetische Fazit seiner
Epoche zieht, und wo man ihn im Verkehr mit seinen- Festdichtem
und Dekorateuren oder im Frühjahr 1914 ans Korfu sieht, über
Hamer und dorische Säulen forschend, während, wie er hinzugc-
sügt, im Kaüiasns schon'gegen ihn mobil gemacht ivirdi
Dennoch passiert ein entscheidender Widerspruch. Wahrend W
nämlich für alle Fehler seine Minister verantwortlich macht, im
Ton eines Gutsherrn, der wegen eigenen schlechten Einkaufes oder
auch wegen des Hagels seinen Inspektor verklagt, schreibt er sich
alle „Erfolge", selber zu: er ist es, der Lord Haldan in seine
Schranken weist — und dann folgt die schwer kränkende Beschrei-
bung dieses Mannes, der zu den Zierden britischen Geistes gehört,
und er lacht über Bethmanns angebliche Tränen bei der Abwei-
sung dieses letzten englischen Friedensversuches.
Daß der Kaiser Kriegsausbruch und -ende falsch sicht, -st
menschlich verständlich. Nur einige Drolerien werde« sich bald
beflügeln: so etwa, daß die Armee, deren entscheidender Druck
im IM aus dem deutschen Dokumenten, aus allen Memoiren und
aus ihrer eigenen Tradition folgt, vom Auswärtigen Amte mit
dem Kriege schuldhaft überrascht worden sei! Auch dürften sich
Karikaturisten durch die Behauptung des Kaisers angeregt fühlen,
im Juli 1914 wäre ein Teil der englischen Flotte mach Norwegen
unterwegs gewesen, um ihn dort abzufangon.
Ueiber den Kriegsablaus selber schweigt des Kaisers Höflich-
keit fast ganz. An« Schlüsse aber wird er lebhaft: Prinz Max
-und Scheidemann, dessen revolutionären Genins er stark über-
schätzt, werden die Zielscheiben seines letzten Kaiser-Manövers;
der Prinz, der letzte, der die Dynastie noch am 9. November mit
kühnem Handstreich zu retten suchte, wird geradezu Zerstörer des
Reiches genannt. Was blieb ihm übrig —, als nach furchtbarem
innerem Kampfe, das teilte auch der Kronprinz für seine Person
mit — zn fliehen? Das Ausland, schreibt der Kaiser, wollte kei-
nen Frieden mit ihm schließen, das Inland warnte vor dem Bür-
gerkriege: so brachte er das ungeheure Opfer.
Was «mm folgt, steht seit Jahren mindestens alle Souniage in
jedem reaktionären Blatte zn lesen; so ganz Wt der Träger des
Schicksals die Siichworie seiner Histrionen übernommen: Zer-
setzung ine Innern, viereinhalb Jahre glänzender Wasfentaten,
-unerhörter Siege, Dolchstoß von hinten, als der Friede in Greif-
nähe stand. Dann aber weist er die drei Vorwürfe zurück, warum
er nicht anders gehandelt habe: An der Spitze des Heeres den
AuWa-nd in der Heimat niederwerfen? Bürge «krieg! — Beim
letzten Angriff im Kampfe dm Tod suchen? Nene Opfer! — Sich
selber töten? — Erstens Christentum, zweitens Verantwortungs-
gefühl! Er mußte sich, sagt er, seinem Volke erhalten, um ihm zu
helfen nnd die Schuldfrage aufzuhesten; noch minder durste er den
VereiNgetorix spielen und sich dm Minden stellen.
Doch nun bringt zum Schlüsse das längste Kapitel zwei Ueber-
raschuNMN, die Kaiserfrennde hätten verhüten sollen. Wilhelms
Friedenspose aus Menschenliebe und Christentum wird von ihm
selber als politischer SchcWzüg erklärt: die drohende Kriegsent-
scheidung in Europa mnßt-e verschoben werden, bis Deutschland
solch eine Weltstellung inne hatte, daß die Feinde zitterten. Noch
bedeutsamer ein zweites Kaiserwort, cm dem man ja nicht drehen
noch deuten soll: Deutschland habe Fehler gemacht, -aber im In-
teresse des Friedens, solche Fehler seien Wille Schuld, Deutsch-
land habe den Krieg nicht gewollt, also auch wicht verschuldet.
Hätte der Kaiser einst als Prinz unter dem Bonner B-orussen-
Stürmer das Strafrecht seines künftigen Reiches studiert, er hätte
von zwei Arten von Delikten erfahren: -den vorsätzlichen und den
fahrlässigen. Kein Verständiger hüt dem Kaiser je den Vorsatz
vorgeworfen, und als man ihn 1914 Wr Ml Attwa verglich, belei-
digte mM nur den Attila. Was fahrlässig von ihm und den Dei-
nen verschuldet wurde, das steht in dm „Deutschen Dokumenten",
Baud 1—4.
Genau so steht es mit seinem Büch: zumindest sind die meisten
Darstellungen fahrlässig falsch. Die Forschung wird es kaum
streifen. Dem Psychologen rundet es das Bild, den Mona Müßen
«nutz es erbleichen lassen. Es bleibt im Gründe nur, was de»
Verlag des Buches anpreist: Eine Krone als Wasserzeichen-,
«-
Wilhelm macht sich . . .
Der frühere österreichische Kronprinz Rudolf, der im Jahve
1889 -freiwillig aus dem Leven schied, hat Briefe an seinen Freund
geschrieben, die jetzt veröffentlicht werden. Sie enthalten begreif-
licherweise manches, was nebensächlich ist, aber unbegreiflicheriveise
ganz unprinzliche Offenherzigkeiten über alle möglich-en politischen
Dinge. Besonders interessant ist das Urteil dieses Habsburgers
über seinen „Freund" Wilhelm II., Wer den er am 24. August 1888
mit prophetischem Blicke urteilt:
Wilhelm II. macht sich. Er dürfte bald eine große Konfusion
im alten Europa anrichten. Er ist ganz der Mann dazu . . . .
energisch und eigensinnig... sich selbst für das größte Genie
haltend. Was will man mehr? Er dürfte im Laufe weniger
Jahre das hoyenzollcrische Deutschland auf den Standpunkt
bringen, dm es verdient.
Rudolf von Habsburg Wt ja nicht mehr erlebt, was er hi-c-r
voraussagte Aber wir Haven es zu eigenem -Graus leider genug-
sam erfahren müssen.
D-er Briesschreibcr war nach dem Erstgeburtsrecht der dyna-
stischen Epoche berufen, einmal als -Kaiser Von Oesterreich-MM-rn
-handelnd -in die Gsichicke der Nationen einzugreisen. Die Lang-
lebigkeit des alter« Franz Josef hinderte ihn und noch manche»
anderen daran. Aber was man vor« ihm, den Wilhelm als einen
Bewunderer seiner Person und für einen „Freund" ansah, hätte
erwarten können, geht ans einem Brief vom November 1882 her-
vor, in dem der Kronprinz Frankreich als die Quelle -aller libe-
ralen Ideen «Md Institutionen ans dem .Kontinent preist und dann
fortsährt:
Was ist Deutschland dagegen? Nichts als eine enorm er-
weiterte preußische Soldateska, ein purer MMitärstaat, was es
früher war, nur noch vergrößert. Was hat das Jahr 1870
Deutschland genützt? Zu den kleinen Königen und Fürste»
haben sie noch einen Kaiser vazuvekommen
Eine viel größere Armee müsset« sie zahlen, und ein von
Soldaten, Polizei und strammem Beamtentum erhaltene c und
gedrückter Reichs- und Einheitsgcdanke schwebt Ms den Flü-
geln eines anvefohlenen und unerzogenen Patriotismus an den
Spitzen der Bajonette.
Der Mann fa-h die Zustände in Deutschland seiner Zeit ganz
klar. Uobersl-iissig zn sagen, daß er dem Werben des Fürsten Bis-
marck um di-e österreichische WaffenhUfe gegen Rußland nur Mit
äußerster Besorgnis gegenttberstand.
Die Krise im Orient.
Abdankung des Sultans.
London, 29. Sept. Reuter meldet aus Konstantinopel:
Es bestätigt sich, daß derSultan zugunsten des Thronfolgers, des
Prinzen Abdul Medschid, avgcdankt hat.
Die diplomatischen Bemühungen.
Paris, 29. Sept. Der „Matin" berichtet ans London: Es
Wird gemeldet, daß F r a n c l i n B o u i l l o n tu S m y r n a gestern
abend eingelrossen ist und sofort eine Besprechung mit Mustapha
Kemal gehabt hat.
London, 29. Sept. Diö „Times" meldet: Das in Paris von
Lord Curzonam letzten Samstag erzielte Ueber-einkommen sei
die einzige Grundlage der britischen Politik. An-
gesichtS der Ungewißheit der Lage in und bet Konstantinopel
habe«« die britischen Minister gestern beschlossen, Harrington
mitzuteilen, daß es nach ihrer Ansicht wichtig sei, daß er eine per -
sönliche Zusammen kn nst mit Kemal Pascha erreiche,
um die Maßnahmen zur Vermeidung eines Zusammenstoßes zu
vereinbaren. Auch die Lage in Thrazien könne sich der „Times"
zufolge für die Alliierten schwieriger gestalten.
London, 29. Sept. Nach einer durch den nationalistischen
Vertreter in Konstantirropel empfangenen Information befindet
sich Kemal Pascha auf dem Wege nach Angora, um die alliierte Noie
persönlich der Nationalversammlung zu unterbreiten. Unter diesen
Umständen sei es unwahrscheinlich, daß irgend eine Antwort vor
nächster Woche eintresfen könne. Inzwischen ist keinerlei Bestäti-
gung der Meldungen über türkische Angriffe aus griechische Truppen
-eingegangen.
Kemal Pascha kennt keine neutrale Zone.
London, 29. Sept. Reuter meldet aus Konstantinopel,
Mustapha Kemal Pascha wiederhole in der Antwort aus die
ihm von General Pellet durch Admiral Dnmesnil in Smyrna
wegen der neutralen Zone übersandte Botschaft, daß er von dem
Bestehen einer neutralen Zone nichts wisse. Kemal Pascha weist
darauf hin, daß er aufrichtig wünsche, Zwischenfälle zu vermeiden
und regt eine ZurückztehungderenglischenTrupPen
an. General Harrington dankte in seiner Antwort für seine Ver-
sicherung, daß er Zwischenfälle zn vermeiden wünsche und regt eins
Konferenz der örtliche«« britischen und türkischen Befehlshaber
an zwecks Festlegung einer vorläufigen neutralen Zone.
Weiterer englischer Tmppenschuv.
London, 29. Sept. Ein englisches Jnfauterie-Batillon und
1000 Mann de-r britischen Luftstreikräfte sind gestern in K o n st a n -
ttnopel eingetrossen.
Der Streit um den griechischen Thron.
Belgrad, 29. Sept. Die „Politika" bringt eine Meldung ans
Athen, wonach der Thronfolger gestern der Regierung den Treueid
auf die Verfassung geleistet hat. Der Thronfolger wird- unter dem
Namen Georg II. die Regierung antreten. Die revolutionären
Truppen sind in die Stadt eingezogen nnd wurden hier als Be--
Adelsheim, Borrberg, Tauberbischofsheim uud Wertheim. __
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Acschästsstunden: 8—V,6 Uhr. Sprechstunden derRedaktion: 11—12Uhr.
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Heidelberg, Samstag, 36. Sept. 1922
Nr. 228 * 4. Jahrgang
Verantwort!.: Für innere u. äußere Politik, Volkswirtschaft «.Feuilleton:
Dr. E. Kraus; für Kommunales, soziale Rundschau und Lokales:
O.Geibel; für die Anzeigen: A. Friedmann, sämtl. in Heidelberg-
Druck u. Verlag derUnterbadischen Verlagsanstalt G. m. b. H., Heidelberg-
Geschäftsstelle: Schröderstraße 39.
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Die Apologie des Er-Kaisers.
Der Dollarvertrag. — Wilhelm II. Rede vor dem Spiegel. — Der
Dtahlengel mit dem Oelzweig. — Drolerien und Uevcrraschmrgen.
— Eine Krone als Wasserzeichen.
Wir entnehmen folgende Ausführungen der „Neuen
Züricher Zeitung", die in ihrer geistvollen Art besser
als jede andere Bnchkr-itik, die in diesen Tagen in fast
allen Weltsprachen erscheinenden Erinnerungen Kaiser
Wilhelm II. illustrieren. Die Apologie des Ex-Kaisers
in der „N. Z. Ztg." ist geschrieben „Von einem Deur-
schen" und lautet:
Die numerierte Luxus-Ausgabe auf echtem Büttenpapier, mit
dem Namenszug als Wasserzeichen gedruckt, in Pergamenit 2500 M."
- Leipzig, K. F. Koehler, Verlag.
Die Kaiserkrone als Wasserzeichen, das ist das Shmbol des
Inches, Has soeben das Licht der Alten und der Neuen Welt er-
blickt, und der berühmte Dollarvertrag, der dem Autor heute rund
E0 Millionen Mark seines Reiches einträgt, ist der Zweck. Das
glotze Mitleid, mit dem viele Deutsche die „tragische Gestalt des
Kaisers" zu adeln suchen, vermögen wir. durch andere Objekte be-
ggspmcht, nicht aufzubringen: ihm geht es, scheint uns, erheblich
besser als der unabsehbaren Reihe von Männern und Frauen, die
der Krieg verstümmelt oder verwaist hat. Trotzdem hätte jeder be-
griffen, wenn ein von der gesamten nichtdeutschen Welt Beschuldig-
er zur Feder griff, um sich zu reinigen; natürlich, indem er seine
Motive rein erhielt, zugunsten jener schuldlosen Opfer. Doch der
letzte Hohenzoller rechnet, scheint es, lieber mit einer arideren Art
Kon „Millionen", die nicht stöhnt, sondern knittert.
Trotzdem hatten wir wenigstens aus die taktvolle Arbeit seines
orkorenen Dramaturgen gehofft, die dies ertragreichste Buch der
Geschichte auch anderen erträglich machen konnte; geschickte Hände
Hütten einen Mann mit seinem Widerspruch, einen Einsamen kon-
struieren kömren, der das Vergangene nur durchdenkt, der Mann
des Schicksals hätte erscheinen müssen, dessen Seelentönen auch der
politische Gegner lauscht, nm den entmachteten Träger , ei lies Ge-
dankens zu ehren, dem einst die Grütze nicht fehlte. Loch er giaubre:
die Axt im Haus erspart Engeu Zimmermann, und schrieb, so
scheint es, im Gegensatz zu Kronprinz Nosner, meist selber. Als
bl apo (eon seine Memoiren schrieb — wenn man auch nur für
die Dauer eines Augenblicks diesen Vergleich wagen will —, da sah
chon einen bleichen Helden fiebernd seine kleine Stube, die enge
"oNfel abschreiten und Rechenschaft vor sich selber ablegen; neben
die stolze Darlegung ungeheurer Siege stellte er die Talente seiner
Gegner offen zur Schau, doch auch eigene Mißgriffe männlich zur
Kritik. So entstand eine Art Selbstgespräch vor dem Pho-
nographen. Wilhelms II. Buch gleicht in altem seiner Regierung:
es ist eine Rede vor dem Spiegel.
. Will >nan die Summe dieser fünfzehn Kapitel wissen? Nichts
w zg Fahre,: hat der Kaiser falsch gemacht, niemand verkannt,
wttner hat er kassaudrahaft vor den Fehlern seiner blinden Kanzler
gewarnt, vergebens: sie bezwangen ihn, bis er zähneknirschend
Ullterschrteb. Beweis: Bismarck verhinderte ihn im Amte an der
rechten Sozialpolitik, nach dem Sturze an der Auswirkung aller
seiner Ideen, Caprivi an der Erneuerung des russischen Vertrags.
Hohenlohe und Marschall zwangen ihn zur Krüger-Depesche, deren
verheerende Wirkung er angedroht hatte, Bülow nötigte ihn nach
Zanger, wohin er sehr contre coeur gegangen sei, und hinderte ihn
mcht am Interview mit „Daily Telegraph". Bethmann endlich,
tmmer Gouvernante und ihn ständig belehrend, habe trotz aller
Warnung des Kaisers den heraufziehenden Krieg nicht gesehen, ihn
an der Reform des Wahlrechts, an der Unterstützung von Tirpttz
verhindert; Prinz Max endlich zwang ihn gegen die heißesten
Wünsche seines Herzens zur Flucht.
, Soviel Behauptungen, soviel Verdrehungen — um das Wort
, >cht geradenwegs zu gebrauchen, -das die Historiographie bei inin-
- crer Stellung des Autors ihm entgvgenschlendern würdel Der
»A-Bismarck liegt weit komplizierter, und nichts kennzeichnet die
,.V«ksWbe" des Kaisers besser als sein Geständnis, den offenen
^RPf gegen die Sozialisten, den Bismarck wollte, habe er nur
aus politischer Nötigung zum Ausgleich nicht führen köMsm
»'r aste Fälle läßt er sich am Ende des Kapitels von den Arbei-
g. Erer Werft einen Lorbeerkranz für seine Sorgfalt überreichen.
^Emner ist schon, dich er nicht bloß Bismarck-Worte (den Ver-
Siegfried und Höd-ur mit der deutschen Geschichte) ohne
tvr, und zwar als jüngste Lesesrüchte zitiert, sondern ihm
, z-Lorte unterlegt, die er historisch und psychologisch nicht ge-
tagt habon kann.
vie-lni-^ E^'Nig hat Wilhelm den russischen Vertrag gewollt,
dcvekNi« persönlichem Haß verboten. Daß er die Krüger-
samrmm.'Est erfunden, bezeugt Gr Stil und Impuls, bezeugen
selvn c ""d mündliche Ueberlteserungen aller Beteiligten; doch
Fm , K liegen England — das echteste Gefühl dieses ans
..^Eeit komponierten, durch Eduard VII. in beiden
^"ksftwen Charakters — will er vom alten Hohenlohe
übernommen haben. Wie er nach Tanger verlangte
lim c» > 'kEcer nnd der Schimmel hochgingen), beschreibt -cmschau-
wi - mm°r sanfte Schoen, und was Bülow betrifft, so glauben
daß er demnächst selber sprechen wird, nachdem er,
ganr.» E, geM" den Kaiser, Vis jetzt geschwiegen hat. Di«
ken dreißig Jahren dort nirgends Verautwortlich-
stw man doch immer Glanz geerntet hatte, zeig»
rasch «och dem Zentrum die Schuld an Btt-
selber doch höchst erwünschten) Fall znschreibt und den
li>M feinen, aus alle Fälle verstorbenen Gmfen Hert-
Fvennd Bülows, noch im Jahre 1917 in Spa stolz er-
nten laßt, er habe Verdienste an Bülows Sturz.
e» man fMMn: war dieser Pseudo-Autokrat,
Mivsundzwanzig Jahre lrwg durch seine gepanzerte Friedens-
taube, durch seinen Stahlengel mit dem Oelzweig Europa in Er-
regung gehalten hat, nicht Manns genug, in den Momenten seiner
politischen Visionen allein zu entscheiden, und gegen seine Berater?
Hinderte ihn vielleicht eine vernünftige Verfassung, zn entlassen,
was ihm nicht mehr beliebte? Wer Bismarck mit einem Wink
fortjagen durfte, ver muhte Wittlich, wie er mehrmals wiederholt,
törichte Roten widerstrebend unterzeichnen? Fühlte er sich etwa
konstitutioneller als die Konstitution?
Man muß ihn nur als Landesvater hören, dann erst begreift
man, wie er sein Jahrhundert begriff. Bis 1918 hatte Preußen
ein Wahlrecht, das man in einer Republik wie eine alte Kanone
im Museum anstaunen würde: Drei Klassen, geordnet nach dem
Gelbe, was jeder besaß. Fünfundzwanzig Fahre lang vergebens
wiederholter Sturmlauf von links, der König als heftiger Gegner
jeder Gleichheit. Ms endlich der Krieg seine Todfeinde, die So-
zialisten, freudig unter die Fahne führt, fordert die Linke lallt und
energisch, was ihr längst .zukam und Was ihnen endlich eine «einzige
Geste bewilligen mutzte. Statt dies nun, spres tout, in ein Paar
schlichten Worten zn bestätigen, greift der Kaiser heute noch B-ech-
m-ann an, er habe seine guten Absichten verschleppt: denn schon
im ersten Kriegswinter habe er seinen tapferen Preußen, mit denen
er selbst vor dein Feinde gestanden habe, nach siegreicher Heimkehr
eine Bsloihnung spontan bereiten wollen, — dies alles in einem
falsch patriarchalischen Tone, der zwischen dem Großen Friedrich
und deni Sonnenkönig eine kuriose Mitte hält.
Ist also niemand, der vor seinem Wick besteht? Doch, Tir-
pitz, den er seines, auch nach der Abdankung noch kaiserlichen Dan-
kes versicherte, diesen alten, gefährlichen Se-enmnn empfiehlt er sei-
nem flottenlosen Vaterlande als einzigen, der ihm wieder W-fzn-
belf-m wüßte! Man Gürt, wohin die Rückreise gehen soll. Auch
sonst wird dies 9. Kapitel, das Heer und Flotte behandelt, mit sei-
nen« frisch-fröhlichen Kriegstempo die Herzen aller „ollen ehrlichen
Preußen" entzücken. Weit kürzer und viel komischer ist ein anderes
Kapitel gehalten, in dem Wilhelm das ästhetische Fazit seiner
Epoche zieht, und wo man ihn im Verkehr mit seinen- Festdichtem
und Dekorateuren oder im Frühjahr 1914 ans Korfu sieht, über
Hamer und dorische Säulen forschend, während, wie er hinzugc-
sügt, im Kaüiasns schon'gegen ihn mobil gemacht ivirdi
Dennoch passiert ein entscheidender Widerspruch. Wahrend W
nämlich für alle Fehler seine Minister verantwortlich macht, im
Ton eines Gutsherrn, der wegen eigenen schlechten Einkaufes oder
auch wegen des Hagels seinen Inspektor verklagt, schreibt er sich
alle „Erfolge", selber zu: er ist es, der Lord Haldan in seine
Schranken weist — und dann folgt die schwer kränkende Beschrei-
bung dieses Mannes, der zu den Zierden britischen Geistes gehört,
und er lacht über Bethmanns angebliche Tränen bei der Abwei-
sung dieses letzten englischen Friedensversuches.
Daß der Kaiser Kriegsausbruch und -ende falsch sicht, -st
menschlich verständlich. Nur einige Drolerien werde« sich bald
beflügeln: so etwa, daß die Armee, deren entscheidender Druck
im IM aus dem deutschen Dokumenten, aus allen Memoiren und
aus ihrer eigenen Tradition folgt, vom Auswärtigen Amte mit
dem Kriege schuldhaft überrascht worden sei! Auch dürften sich
Karikaturisten durch die Behauptung des Kaisers angeregt fühlen,
im Juli 1914 wäre ein Teil der englischen Flotte mach Norwegen
unterwegs gewesen, um ihn dort abzufangon.
Ueiber den Kriegsablaus selber schweigt des Kaisers Höflich-
keit fast ganz. An« Schlüsse aber wird er lebhaft: Prinz Max
-und Scheidemann, dessen revolutionären Genins er stark über-
schätzt, werden die Zielscheiben seines letzten Kaiser-Manövers;
der Prinz, der letzte, der die Dynastie noch am 9. November mit
kühnem Handstreich zu retten suchte, wird geradezu Zerstörer des
Reiches genannt. Was blieb ihm übrig —, als nach furchtbarem
innerem Kampfe, das teilte auch der Kronprinz für seine Person
mit — zn fliehen? Das Ausland, schreibt der Kaiser, wollte kei-
nen Frieden mit ihm schließen, das Inland warnte vor dem Bür-
gerkriege: so brachte er das ungeheure Opfer.
Was «mm folgt, steht seit Jahren mindestens alle Souniage in
jedem reaktionären Blatte zn lesen; so ganz Wt der Träger des
Schicksals die Siichworie seiner Histrionen übernommen: Zer-
setzung ine Innern, viereinhalb Jahre glänzender Wasfentaten,
-unerhörter Siege, Dolchstoß von hinten, als der Friede in Greif-
nähe stand. Dann aber weist er die drei Vorwürfe zurück, warum
er nicht anders gehandelt habe: An der Spitze des Heeres den
AuWa-nd in der Heimat niederwerfen? Bürge «krieg! — Beim
letzten Angriff im Kampfe dm Tod suchen? Nene Opfer! — Sich
selber töten? — Erstens Christentum, zweitens Verantwortungs-
gefühl! Er mußte sich, sagt er, seinem Volke erhalten, um ihm zu
helfen nnd die Schuldfrage aufzuhesten; noch minder durste er den
VereiNgetorix spielen und sich dm Minden stellen.
Doch nun bringt zum Schlüsse das längste Kapitel zwei Ueber-
raschuNMN, die Kaiserfrennde hätten verhüten sollen. Wilhelms
Friedenspose aus Menschenliebe und Christentum wird von ihm
selber als politischer SchcWzüg erklärt: die drohende Kriegsent-
scheidung in Europa mnßt-e verschoben werden, bis Deutschland
solch eine Weltstellung inne hatte, daß die Feinde zitterten. Noch
bedeutsamer ein zweites Kaiserwort, cm dem man ja nicht drehen
noch deuten soll: Deutschland habe Fehler gemacht, -aber im In-
teresse des Friedens, solche Fehler seien Wille Schuld, Deutsch-
land habe den Krieg nicht gewollt, also auch wicht verschuldet.
Hätte der Kaiser einst als Prinz unter dem Bonner B-orussen-
Stürmer das Strafrecht seines künftigen Reiches studiert, er hätte
von zwei Arten von Delikten erfahren: -den vorsätzlichen und den
fahrlässigen. Kein Verständiger hüt dem Kaiser je den Vorsatz
vorgeworfen, und als man ihn 1914 Wr Ml Attwa verglich, belei-
digte mM nur den Attila. Was fahrlässig von ihm und den Dei-
nen verschuldet wurde, das steht in dm „Deutschen Dokumenten",
Baud 1—4.
Genau so steht es mit seinem Büch: zumindest sind die meisten
Darstellungen fahrlässig falsch. Die Forschung wird es kaum
streifen. Dem Psychologen rundet es das Bild, den Mona Müßen
«nutz es erbleichen lassen. Es bleibt im Gründe nur, was de»
Verlag des Buches anpreist: Eine Krone als Wasserzeichen-,
«-
Wilhelm macht sich . . .
Der frühere österreichische Kronprinz Rudolf, der im Jahve
1889 -freiwillig aus dem Leven schied, hat Briefe an seinen Freund
geschrieben, die jetzt veröffentlicht werden. Sie enthalten begreif-
licherweise manches, was nebensächlich ist, aber unbegreiflicheriveise
ganz unprinzliche Offenherzigkeiten über alle möglich-en politischen
Dinge. Besonders interessant ist das Urteil dieses Habsburgers
über seinen „Freund" Wilhelm II., Wer den er am 24. August 1888
mit prophetischem Blicke urteilt:
Wilhelm II. macht sich. Er dürfte bald eine große Konfusion
im alten Europa anrichten. Er ist ganz der Mann dazu . . . .
energisch und eigensinnig... sich selbst für das größte Genie
haltend. Was will man mehr? Er dürfte im Laufe weniger
Jahre das hoyenzollcrische Deutschland auf den Standpunkt
bringen, dm es verdient.
Rudolf von Habsburg Wt ja nicht mehr erlebt, was er hi-c-r
voraussagte Aber wir Haven es zu eigenem -Graus leider genug-
sam erfahren müssen.
D-er Briesschreibcr war nach dem Erstgeburtsrecht der dyna-
stischen Epoche berufen, einmal als -Kaiser Von Oesterreich-MM-rn
-handelnd -in die Gsichicke der Nationen einzugreisen. Die Lang-
lebigkeit des alter« Franz Josef hinderte ihn und noch manche»
anderen daran. Aber was man vor« ihm, den Wilhelm als einen
Bewunderer seiner Person und für einen „Freund" ansah, hätte
erwarten können, geht ans einem Brief vom November 1882 her-
vor, in dem der Kronprinz Frankreich als die Quelle -aller libe-
ralen Ideen «Md Institutionen ans dem .Kontinent preist und dann
fortsährt:
Was ist Deutschland dagegen? Nichts als eine enorm er-
weiterte preußische Soldateska, ein purer MMitärstaat, was es
früher war, nur noch vergrößert. Was hat das Jahr 1870
Deutschland genützt? Zu den kleinen Königen und Fürste»
haben sie noch einen Kaiser vazuvekommen
Eine viel größere Armee müsset« sie zahlen, und ein von
Soldaten, Polizei und strammem Beamtentum erhaltene c und
gedrückter Reichs- und Einheitsgcdanke schwebt Ms den Flü-
geln eines anvefohlenen und unerzogenen Patriotismus an den
Spitzen der Bajonette.
Der Mann fa-h die Zustände in Deutschland seiner Zeit ganz
klar. Uobersl-iissig zn sagen, daß er dem Werben des Fürsten Bis-
marck um di-e österreichische WaffenhUfe gegen Rußland nur Mit
äußerster Besorgnis gegenttberstand.
Die Krise im Orient.
Abdankung des Sultans.
London, 29. Sept. Reuter meldet aus Konstantinopel:
Es bestätigt sich, daß derSultan zugunsten des Thronfolgers, des
Prinzen Abdul Medschid, avgcdankt hat.
Die diplomatischen Bemühungen.
Paris, 29. Sept. Der „Matin" berichtet ans London: Es
Wird gemeldet, daß F r a n c l i n B o u i l l o n tu S m y r n a gestern
abend eingelrossen ist und sofort eine Besprechung mit Mustapha
Kemal gehabt hat.
London, 29. Sept. Diö „Times" meldet: Das in Paris von
Lord Curzonam letzten Samstag erzielte Ueber-einkommen sei
die einzige Grundlage der britischen Politik. An-
gesichtS der Ungewißheit der Lage in und bet Konstantinopel
habe«« die britischen Minister gestern beschlossen, Harrington
mitzuteilen, daß es nach ihrer Ansicht wichtig sei, daß er eine per -
sönliche Zusammen kn nst mit Kemal Pascha erreiche,
um die Maßnahmen zur Vermeidung eines Zusammenstoßes zu
vereinbaren. Auch die Lage in Thrazien könne sich der „Times"
zufolge für die Alliierten schwieriger gestalten.
London, 29. Sept. Nach einer durch den nationalistischen
Vertreter in Konstantirropel empfangenen Information befindet
sich Kemal Pascha auf dem Wege nach Angora, um die alliierte Noie
persönlich der Nationalversammlung zu unterbreiten. Unter diesen
Umständen sei es unwahrscheinlich, daß irgend eine Antwort vor
nächster Woche eintresfen könne. Inzwischen ist keinerlei Bestäti-
gung der Meldungen über türkische Angriffe aus griechische Truppen
-eingegangen.
Kemal Pascha kennt keine neutrale Zone.
London, 29. Sept. Reuter meldet aus Konstantinopel,
Mustapha Kemal Pascha wiederhole in der Antwort aus die
ihm von General Pellet durch Admiral Dnmesnil in Smyrna
wegen der neutralen Zone übersandte Botschaft, daß er von dem
Bestehen einer neutralen Zone nichts wisse. Kemal Pascha weist
darauf hin, daß er aufrichtig wünsche, Zwischenfälle zu vermeiden
und regt eine ZurückztehungderenglischenTrupPen
an. General Harrington dankte in seiner Antwort für seine Ver-
sicherung, daß er Zwischenfälle zn vermeiden wünsche und regt eins
Konferenz der örtliche«« britischen und türkischen Befehlshaber
an zwecks Festlegung einer vorläufigen neutralen Zone.
Weiterer englischer Tmppenschuv.
London, 29. Sept. Ein englisches Jnfauterie-Batillon und
1000 Mann de-r britischen Luftstreikräfte sind gestern in K o n st a n -
ttnopel eingetrossen.
Der Streit um den griechischen Thron.
Belgrad, 29. Sept. Die „Politika" bringt eine Meldung ans
Athen, wonach der Thronfolger gestern der Regierung den Treueid
auf die Verfassung geleistet hat. Der Thronfolger wird- unter dem
Namen Georg II. die Regierung antreten. Die revolutionären
Truppen sind in die Stadt eingezogen nnd wurden hier als Be--