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Volkszeitung: Tageszeitung für die werktätige Bevölkerung des ganzen badischen Unterlandes (Bezirke Heidelberg bis Wertheim) (4) — 1922 (September bis Dezember)

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Nr. 271 - Nr. 280 (20. November - 30. November)
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TWkß'UUW für die mrUMe MMmU Ser Amlsbezltte ßeiSelSerg, WleslöH. EimtzeU, EWillgm, VeröO. MZSM, MW, Welchem, MMerg, TMZexZffHsfsUiN u. WEN
4. Jahrgang Heidelberg, Donnerstag, den 23. November 1922 Nr. 274

Kampfansage.

xr. Heidelberg, 23. November.
Der Leidensweg des deutschen Volkes ist von
einer kaum überbietbaren Tragik. Jahrhunderte-
lang Lurch die Rivalität seiner zahllosen Dynastien
von der Wcltpolitik ferngehalten und mit kleinlichen
Reibereien beschäftigt, als die Welt verteilt wurde,
jahrzehntelang noch in absolutistischen Zuständen
lebend und voll unfähigen Hoskliquen beherrscht,
derweil in den übrigen Staaten der Welt sich das
Volk längst selbst zum Gestalter seiner Geschicke ge-
macht hatte, schien endlich, geboren aus dem Zusam-
menbruch des alten Regimes eine neueAerades
deutschen Volkes herauszuleuchten. Zwar angesichts
der Folgen des furchtbarsten Krieges der Weltge-
schichte mühselig und unter Schmerzen geboren, aber
immerhin hoffnungerweckend für die Zukunft. Die
Lehren der Vergangenheit und des Weltkrieges rede-
ten eine so deutliche Sprache, daß selbst der politisch
Schwerhörigste austauen mutzte.
Weit gefehlt jedoch! Verführt durch die anfäng-
lich schwer erkennbare Fata Morgan« des nahen
Ostens gingen der deutschen Saat gleich von vorn-
herein wertvolle Kräfte verloren. Aus vernarbter
Mittelalterlichkeit, nacktem Egoismus, verletzter
Eitelkeit fielen von der anderen Seite viele Blätter.
Trotzdem noch Fonds genug, beste Ernte zum Reisen
Zu bringen. Da schlug der Wahnsinn von Ver-
sailles einem Hagel gleich in die blühende Ernte.
Die Entente, im Kriege vorgeblich für die Etablie-
rung der Weltdemokratie kämpfend, sengte und
brannte schwerem Gewitter gleich im blühenden
Kornfeld. Aber trotz alledem hätte Mittelernte sein
können — sofern das deutsche Bürgertum,
das seit Heine und Börne die deutschen Satyriker
herausfordern mutzte, auch nur ein Jota politischen
Instinkts besessen hätte. Umgarnt von den reaktio-
nären Tiraden und chauvinistischen Bramarbasredcn
der Deutschnationalen und Liberalen Volkspariei,
liest es sich im Sommer 1920 dahin treiben, einen
Reichstag zu wählen, der infolge des verstärkten
Einzugs der unverblümten deutschnationalen Reak-
tion und der ihr hierin nicht gern nachhinkenden
volksparteilichen Schwerindustrie, das Grundgebüude
des deutschen Wiederaufbaues ins Wanken brachte
und die weite Anbaufläche bedrohte. Wie stark die
Bedrohung war, wurde dem deutschen Bürgertum
sofort ad oculus demonstriert. Die Kabinette Feh-
lend ach-Simons zeigten zum unfächlichsten Male
dem deutschen Volke, was es nicht tun sollte. Die
durch eine volksparteilich-deutschnationale Taktik be-
wirkte und heute noch nicht beseitigte Besetzung
Düsseldorfs und Ruhrorts sprach nur zu
deutlich. Man kehrte zur Koalition, Sozial-
demokraten, Demokraten, Zentrum, zurück. Dr.
Wirth übernahm das Staatsruder mit der ur-
wüchsigen Wucht des heunatverankerten originalen
Volksmanncs, im Weltmanns Rachenau die nötige
außenpolitische Ergänzung findend. Die deutsche
Republik hatte endlich, man darf hierzu noch den
Reichsjustizminister Dr. Radbruch rechnen, Persön-
lichkeiten grotzen Formats gefunden, wenn auch ihre
Erweiterung, vor allem durch einzelne große Wirt-
schaftsführer, zu wünschen gewesen wäre. Gewisse
Sorgen konnte nur die schwache Mehrheit machen,

auf die sich das Kabinett stützen konnte. Wenn aber
auch schwach: eine Mehrheit war vorhanden. Da
wurde unter dem Druck der fanatischen antisemiti-
schen und monarchisch-chauvinistischen Hetze Deutsch-
lands bedeutendster Außenpolitiker seit Bismarck,
Walter Rathenau, von Bubenhand weggeschossen.
Alles geriet ins Wanken. Nichts mehr stand fest.
Das Chaos schien uns zu überschwemmen. Da
wuchte wie ein rettender Engel die Vereinigung der
Unabhängigen, die allgemach ihren politisch un-
brauchbaren linken Flügel an die Kommunisten ad-
Sestotzen hatten, mit den Mehrheitssozialdemokrcttell
auf. Die Vereinigte Sozialdemokrati-
sch e P a r t e i konnte die Rettung des deutschen
Volkes sein, wenn sie als Kristallisationspunkt der
deutschen Republik genommen Wurde. Durch die
Vereinigte Sozialdemokratische Partei erhielt die
Koalition eine so starke Mehrheit, daß endlich an
einen planmäßigen innen- und außenpolitischen
Ausbau der deutschen Republik geschritten werden
konnte. Die Bahn war frei.
Gefehlt! Das alte Nebel machte sich sofort be-
merkbar. Der deutsche Bürger bekam es mit oer
Angst zu tun. Die verstärkte Sozialdemokratie
llößte dem braven Philister soviel Entsetzen ein, daß
er, statt die richtigen Konsequenzen aus der Lage
..bürgerliche Arbeitsgemeinschaft" schuf,
btatt di« Deutsche Volkspartei, wie es die
Entwicklung vorgefchrieben hätte und sicher auch
w>tA vorschteivt, allgemach zu einer republi-
kanischen Partei, wenn auch rechtsgerichteter
An wie die französischen Clemenceau-Nadikalen, z u
Erziehen und sie dann als eine Partei unter
den vielen anderen republikanischen Parteien zu
verantwortlicher Mitarbeit heranzuziehen, schlossen
"ch Zentrum, Demokraten und Volkspartei zur
»Arbeitsgemeinschaft" zusammen, die mit
gebundener Marschroute glaubte jeweilig ein fait
»ccomplt schaffen zu können, das mit den Mitteln
vex Diktatur die Sozialdemokratie unter das
nudinische Joch rechtsgerichteter Strömungen brin-
gen konnte. Indem Dr. Wirth diese Vorgänge nicht
urchschaute und späterhin glaubte, ihnen entgegen-
wmnren zu müssen, war sein Sturz gegeben, da die
Sozialdemokratie nie und nimmermehr bei aller

Bereitschaft zu Verantwortlicher Mitarbeit und beim
besten Willen, alle Positiv denkenden Kräfte in den
Dienst des Ausbaues zu stellen, sich auf diese
Weise übertölpeln lassen konnte. So kam es, daß
das deutsche Reich sich heute in einer Krise ge-
fährlichster Art befindet.

Unser Karlsruher parlamentarischer
Mitarbeiter schreibt uns über die Vorgänge
im HMshaltscmsschust, die ein bezeichnendes Licht
ans die Agrarparteien werfen:
In der am 21. November stattgefundsnen Sit-
zung des Ha-nshLltAausschusses wurde zunächst bei
Eintritt in die Tagesordnung, Fortsetzung der Be-
ratung der Anträge zur Getreideumlage und Brot-
versorgung) der Bericht der Rsgierungsvertreter über
die Verhandlungen beim Reichsernährungsministe-
rinm entMgengonomancn. Diese Verhandlungen,
die von dem Staatspräsidenten und Minister Gen.
Remmele und seinen Referenten teilweise mit
dem Reichscrnährunigsminister Dr. Fehr persönlich
geführt wurden, zeigten nach überaus schwierigen
Besprechungen ein für das ganze Land Baden wich-
tiges Ergebnis, indem das Soll der Getreide-
umlage von 22000 Tonnen auf 12500 Tonnen
ermäßigt wurde. Diese Herabsetzung wurde erreicht
gegen größten Widerstand der Berliner Stellen, die
insbesondere den Ausfall der Getreideernte in Ba-
den nicht als eine Mißernte gelten lassen wollten.
Es darf hierbei nicht verschwiegen werden, daß durch
diese Herabsetzung des Umlagesolls in Baden um
etwa 10000 Tonnen gleichzeitig eine schwere Be-
lastung für das Reich entsteht, das dadurch gezwun-
gen ist, diesen Ausfall an Getreide durch vermehrte
Einfuhr von Auslaudsgetrerde zu decken. Bei die-
sem Anlaß mutz aber auch gesagt werden, daß es
nicht zuletzt den persönlichen Bemühungen des sozd.
Ministers Gen. Remmele zu danken ist, daß dieses
für Baden günstige Verhandlungsergevnis erreicht
worden ist und daß Genosse Remmele seine ganze
Person auch da einsetzt wo es gilt, für die bad.
Landwirtschaft etwas zu erreichen, wenngleich
auch diese selbe Landwirtschaft, die Bemühungen
eines sozdom. Ministers nicht immer aner-
kennt oder besser gesagt, nicht immer anerkennen
will.
lieber die finanzielle Wirkung des An-
trags Dr. Schofer zur Brotversorgung erstattete
hieran? ein Rsgierungsvertreter Bericht, nach dem Sei
der VerSilligtlngSaition für Kartenvrot, bei Umrah-
me von 10 Proz. Bedürftigen der Gesamtbsvöike-
rnng hier Brotkartenempfäugsr, gerechnet werden
müsse mit 168000 Unterstützungsbsdürftigsn; bei
einem Brotversvauch von rund 100 Kg. pro Kopf
und Jahr und bei Annahme der Differenz zwischen
früherem Brotpreis und heutigen Brotpreis mit 45
Mark pro Laib entspreche dfts einem Vervilligungs-
auswand von ca. 760 Mill. Mark fürs Jahr, ohne
Berücksichtigung der BrvIprciserhöHungen im Mo-
nat November und Dezember. Derselbe Regie-
rungsvertreter gab weiter AufschLutz über den finan-
ziellen Effekt der Ziffer 2 desselben Antrags, Rück-
vergütung der Preisdifferenz zwischen Umlagege-
treide und freiem Börsenpreis an die Landwirte,
wobei der Gesamtaufwand, unter Berücksichtigung
des Börsenpreises vom 18. Nov., aus 1510 Mill.
Mark beziffert wurde.
Der Sprecher der soz-ialdem. Partei sprach
zu beiden Anträgen seinen prinzipiellen Standpunkt
dahin aus, daß die Möglichkeit oder Unmöglichkeit
der Ausführung von der Auskunft des Finanzmini-
stcrs über die Stellungnahme der Regierung aS-
hiingig gemacht werden müsse. Auch wenn dem
ersten Ärrtvag die Zustimmung erteilt werde,
so sei die Zustimmung zum 2. Antrag auch noch
nicht ohne weiteres zu geb em Bestehe die Land-
wirtschaft auf ihrer Forderung auf Rückvergütung
der Differenz zwischen Getreideuimilage- und Bör-
senpreis durch Geld oder Düngemittel, werde hier
eine Notlage der Landwirtschaft anerkannt, daun
müsse auch die Landwirtschaft die Notlage aller
übrigen Kreise der Bevölkerung, insbesondere der
Festbcsoldeten und aller Sozialrentner, anerkennen
und hierfür auch zu entsprechenden Opfern bereit
sein. Die Vertreter der Sozialdemokratie brachten
hieriaus auch sofort den Antrag ein:
Dem Antrag Dr. Schofer ist in Abt. 1 als
Zisf. 4 beizufügen:
4. Den von der Geldentwertung betroffenen
Festbesoldcten und Rcntenbcziehern ist die Diffe-
renz zwischen Papier- und GoldmarllShnen aus
Staatsmitteln tunlichst auszuglcichen durch Liefe-
rung von verbilligten Lebensmitteln.
Bei Verlesen dieses Antrages gab es aus feiten
der bürgerlichen Parteien erstaunte Gesichter.
Im weiteren verwies der sozialdem. Rodner dar-
aus, daß bei Aktionen Mr die Landwirtschaft diese
ein Jahr zu früh daran sei, denn wir zahlen
fetzt, in einem fachen Falle, nicht Mr die Ernte, die
hinter uns liegt, die noch anderen Produktionskosten
unterlegen war, sondern für die nächstjährige Ernte,
deren Gesamtproduktionskosten wir noch gar nicht
übersehen können. Wenn aber eine Unterstützungs-
aktion wirklich In Frage kommen sollte, sei der Ge-
danke erwähnenswert, die anderen Teile der
Landwirtschaft, die nicht getreidebauende sind, wie
Holz und Wein, ebenfalls wie Industrie und Han-
del, zu den Lasten heranzuziehen. Zum Antrag
Hügle erklärte er nochmals im Prinzip seine Zu-
stimmung.
Die Z entrumspartei ließ durch ihre Ver-
treter erklären, daß sie ihre Anträge aufrecht er-
halte, aber bis zur Stellungnahme des Finangmini-
sters bezw. der Regierung abwartend veibe. Die
Landwirtschaft sei damit einverstanden, nicht die
volle Preisdifferenz zu fordern, sondern begnüge
sich mit einem Teil derselben und weise auf die da-
mit verbunden« Flage der Förderung der landwirt-
schaftlichen Produktion hin. Für die Konsumen-
ten völlig unverständlich und geradezu dts. ngMe

Denn daß mit der Bildung des Kabinetts Cuno
der akuten Krise auch nur irgend etwas an Schärfe
genommen worden ist, können nur Narren und alte
Weiber glauben. Angesichts der vorliegenden Mi-
nisterliste mutz jeden wahrhaft national empfinden-
den Deutschen ein Gefühl bitterer Wehmut be-

WirMchkeit vergessen lassend war die Bemerkung,
daß die Einnahmen der Landwirtschaft aus Obst
viel zu Meder waren, „die OLstpreise feien unter
aller Kanon gewesen." Was sagt denn die städt.
Bevölkerung zu solchen Worten?! Den Antrag der
sozdem. Partei bezeichnete der Redner als geeignet,
den ZentrumsantMg zusammenznschlagen!
Der Vertreter des Landbundes ließ in sei-
nen Mtsfühmngen sofort erkennen, daß es dem
Landbund, trotz der erreichten Herabsetzung des Ge-
treideumlagesolls, nur darum zu tun war, Aas
Getreideumlagegesetz zu bekämpfen bezw. zu Fall
zu bringen. Er verneinte unbedingt die Frage nach
der Möglichkeit des Ausbringens von 12 500 Ton-
nen; die Ausbringung fei nur möglich bei Erfas-
sung aller Betriebe, auch unter 2 Hektar, aber bei
völliger Bezahlung des Marktpreises. Diesen Aus-
führungen etwas HinzuMgen zu wollen ist nutzlos,
die Tendenz ist leicht zu erkennen.
Die deutsche Volkspartei brachte durch
ihren Sprecher zum Ausdruck, datz die Landwirt-
schaft selbst kein Interesse daran habe, den Getreide-
Preis zu steigern, sondern nur die Produktionskosten
wolle, zuzügl. eines „angemessenen Nutzens",
die Frage, wie hoch dieser aber sein solle, umging
der Redner. Auch er bezeichnete die Obs-Preise als
viel zu nieder, nicht einmal die Kosten fürs Auslesen
des Obstes wurden bezahlt! Die übrigen Preis-
steigerungen Mr die Landwirtschaft feien auch über-
mätzig hoch und kein Landwirt fei bald mehr im-
stande sie zu 'bezahlen.
Die Vertreter der deutsch-dern. Partei
sprachen zunächst der Regierung ebenso ihren Dank
aus Mr ihren Erfolg in der Frage des Getreide-
umlagesolls und wiesen darauf hin, daß das Ge-
treideumlggegssetz gar nicht zustande gekommen
wäre, wenn nicht im Gesetz selbst eine Erhöhung des
Abgabepreises vorgesehen gewesen wäre. Die Dif-
ferenz zwischen Umlagepreis und Börsenpreis be-
trage jetzt mehr als 20 000 Mk. für einen Doppel-
zentner Weizen, das könne man der Landwirtschaft
als eine Sondersteuer nicht zumuten.
Der Stellungnahme der Regierung
gab Finmrzminister Köhler dahin Ausdruck, datz
die Ausbringung der Mittel Mr Ausfüh-
rung der vorliegenden Anträge beinahe un-
möglich sei. Nur eines sei möglich: eine grotze
Erhöhung der Ertragssteuern, der Grund- und Ge-
werbesteuern, da sonst keine Einnahmen zur Ver-
fügung stünden. Die Illusion, daß das Bud-
get mit einem Ueberschutz ab schließe, sei trotz Steige-
rung der Einnahmen gründlich zu zerstören; Dis
Aufwendungen für die Beamtenbesoldungem Mr
Unterstützung charitattver Anstalten, Aufwendungen
Mr die Kirchenz wenn auch nur in Gestalt von Vor-
schüssen, nehmen alle Einnahmen voll in Anspruch,
ohne ganz die Ausgaben zu decken. Die Grund- u.
Gewerbcsteueru haben sich in der Praxis ganz an-
ders ausgewirkt, insbesondere sei ein völliges Ver-
sagen des 8 13 festzustellen. Das Nettoertrügnis
beträgt etwa 339 Millionen. Zu berücksichtigen fei
auch die Abwälzung der Steuern insbesondere auf
die Mieter, also neue Stouervelastung.
Nach diesen Ausführungen des Finauzrninisters
glaubte der Vorsitzende des Haushal tsau sschusses,
-atz nunmehr die vorliegenden Anträge wohl er-
ledigt seien.
Dem Widerspruch eines Zentrums-
redners, unter Bekanntgabe eines neuen An-
trags, dessen Wortlaut indessen noch nicht vorliegt,
aber dahingeht, datz die Landwirtschaft Die Vergü-
tung von „nur" 75 Prvz. der Preisdifferenz ver-
lange und daß sie die einseitige Belastung eines be-
stimmten Zweiges der Landwirtschaft ablehne.
Diesem Antrag gegenüber betont der Vertreter
der Sozialdemokratie Die Tatsache, daß doch
seither die Zentrumspartei bei allen finanziellen
Fragen die Frage der Deckung aufgeworfen habe,
während jetzt, wo die Landwirtschaft in Frage kom-
me, diese wichtigste Frage, die Deckung, anscheinend
keine, oder doch keine grotze Rolle spiele. Er ver-
wies nochmals auf die Ungerechtigkeit, die im Ge-
gensatz zur Landwirtschaft und Industrie und Han-
del der Steuerabzug am Lohn der Festbcsoldeten
treffe, die ihre Steuern jeweils zum täglichen Wert
der Papiermark bezahlen, während die anderen Be-
rufe ihre Steuern rüüliegend Mr das abgelaufene
Steuerjahr bezahlen, wo die Geldentwertung weiter
vorgeschritten und so die Steuerteistung den grötzteu
Teil ihres wirklichen Wertes' verloren habe. Im
Gegenteil, weite Kreise beantragen noch ein« Stun-
dung, bezahlen geringe Verzugszinsen und zahlen
die Steuerschuld bei noch größerer EeMeutwertnng,
entziehen dem Staate so die dringend benötigten
Barmittel und machen so mit dem Geld« des Staa-
tes ein Wies Geschäft.
Neber den Antrag von deulfch-dem. und sozd.
Seite, das amtliche Material über die Umlegung
des Getreidesolls auf die einzelnen Amtsbezirke zu
veröffentlichen bezw. dem Ausschuß zur Kenntnis
zu bringen, kommt es zu einer längeren Geschästs-
ordnungsdebatte, Mr und wider. Die sozdem.
Vertreter bestanden auf der Veröffentlichung,
weil das gesamte Volk ein Anrecht habe, die wirk-
lichen Zahlen zu erfahren und sich selbst ein
Urteil zu bilden.
Gegen diese Ansicht wird beschlossen, einen
kleineren Ausschuß zu bilden aus je einem
Vertreter jeder Partei und Gruppe und nur diesem
das Material zur Kenntnis zu geben im Benehmen
mit den Regierungsvertretern.
Hier wird dann abgebrochen und die endgültige
BeMMiMMng wiederum vertagt bis zum Borlie«
gen des neuen Z-ntrumsautragtzs.

schleichen. Jahrelang heulte und brüllte die deutsche
Reaktion über die von unten herausgekommenen
Männer des republikanischen Deutschland, denen
gegenüber sie, dem Wahren Jakob vom Jahrmarkt
gleich, als alleiniges und einziges Heilmittel eine
sozialistenreine Regierung Lürgerlich-volksparteilicher
„Fachmänner" empfahlen. Der Wunsch der Deutsch-
nationalen und der Volkspartei ist erfüllt. Die So-
zialisten haben sich von den Regierungsbünken zu-
rückgezogen. Der Direktor der größten deutschen
Schiffahrtsgesellschaft ist zum Reichskanzler ernannt
worden, die Bahn für die „Persönlichkeiten" ist frei.
Sehen wir uns stichweise ein paar der neuen Män-
ner — unter denen sich -außer dem als Mensch sym-
pathisch und als Wirtschaftler (nicht als Politiker,
wie die kurze Entwicklung zeigt) fähig geschilderten
Cuno kein einziger Wirtschaftsmann großen Rufes
befindet — näher an:
Als die große Wirtschaftspersönlichkeit, die die
Welt aus den Angeln heben soll, wird uns der
voiksparteiliche Reichstagsabgeordnete Dr. Becker
aus Hessen als Reichswirtschastsminister präsentiert,
ein simpler Subalterner des schwerindustriellcn Un-
ternehmertums, der, wie der „Hessische Volksfreund"
schreibt, mit allen Angestellten großer Industrie-
konzerne das gemeinsam hat, ungenießbarer als die
Unternehmer selbst zu sein. Neichsfinanzminister
soll Dr. Hermes bleiben, der in seiner eigenen
Partei, dem Zentrum, nicht sonderlich viel Ver-
trauen findet und unter dessen Regiment die Mark
ins Uferlose stürzte, so datz wir uns von seinen
Finanzmaßnahmen keinen sonderlichen Erfolg ver-
sprechen können, selbst wenn gewisse Börsenmanöver
unter schwerindustrieller Beihilfe der politischen Wir-
kung wegen in den Tagen der Krise gewisse trüge-
rische Hoffnungen hinmalen. Reichswehrminister
bleibt Dr. Geßler.
Diese drei Namen dürften zur Charakteristik ge-
nügen. Jetzt hat man also einen Begriff davon,
was man in der „Deutschen Volkspartei" unter
„Persönlichkeiten" versteht. Offen und par-
teipolitisch in jeder Hinsicht vorurteilsfrei heraus-
gesagt: Dieses Kabinett ist Weder ein „Kabinett der
Persönlichkeiten" noch ein „Kabinett der Arbeit",
sondern ein Kabinett übelsten geistigen Durchschnitts,
wenn nicht direkter staatsmännischer Minderwertig-
keit. Sein einziges Charakteristikum ist höchstens
das, datz es vollständig sozialistenrein ist und, wie
selbst die „Vossische Zeitung" in Bestätigung
tnserer Auffassung zugeben mutz, „statt eines un
persönlichen Geschäftsministeriums oder eines Ka-
binetts der Persönlichkeiten ein ausgesprochen poli-
tisches Kabinett der Arbeitsgemeinschaft, und zwar
eigentlich ein Kabinett des rechten Flügels der itt
der Arbeitsgemeinschaft vertretenen Parteien."
Mögen die politischen Ignoranten in den rechts-
stehenden Parteien ein solches Kabinett bejubeln,
mögen sich die Kommunisten über eine solche Zu-
spitzung der Lage freuen — wir Sozial-
demo k r a t e n als durch die Größe unserer Partei
für die Geschicke des deutschen Volkes verantwortlich,
müssen diese Entwicklung aufs tiefste beklagen.
Denn so wertvoll uns parteipolitisch eine agita-
torische Oppositionsstellung sein kann, wichtiger un-
dringender mutz uns eine Politik sein, die dem
Wohle des deutschen Volkes dient.
Dem Wohle des deutschen Volkes kann jedoch
dieses Kabinett Cuno nicht dienen. Innenpoli-
tisch bedeutet es eine fortwährende Bedrohung de«
Republik und eine dauernde Kampfansage an dis
Arbeiterschaft; außenpolitisch liegen in ihm
die Keime zu ewigen Konflikten mit der Entente,
deren Winkelzüge nicht mit einer Prestigepolitik
durchkreuzt werden. Der Gefährdung des
Achtstundentags gesellt sich hinzu, daß dieses
Kabinett des ausgeprägtesten Hochkapitalismus n i s
und nimmer die Stabilisierung des
Mark in einem Sinne vornehmen wird, der den
Volksinteressen dienlich ist.
Angesichts dieser Situation kann es Mr die so-
zialdemokratische Reichstagsfraktion nur eine Taktik
geben: Kamps, rücksichtslose Opposition gegen die-
ses Ministerium volksparteilicher Angestellten de»
Schwerindustrie! Keine Manövrierungen, kernt
Halbheiten! Die Lage mutz klargestsllt werden.
Sturz, schnellster Sturz dieses Kabinetts mutz dis
Parole der Sozialdemokratie sein. Nicht um des
Opposition schlechthin, sorrdern um schleunigst wieder!
die Möglichkeit zu schaffen für ein Kabinett wirk-
lich positiver Aufbauarbeit, dem sich di»
Sozialdemokratie gemeinsam mit jeder Partei und
allen wirklich hervorragenden Persönlichkeiten, dis
sich vorbehaltlos auf den Boden der Republik stellen,
gern zur Verfügung hält.
Um jedoch rasch an das schon wegen der notwen-
digen Markstabilisterung dringende Werk schreiten
zu können, ist es notwendig, das KabinettCnno
schleunigst hinwegzufegen. Deshalb anS
Werl! Mit frischem Mut und der« Willen zur posi-
tiven Arbeit für die deutsche Republik auf in den
Kamps!
Das Kabinett vollständig.
Berlin, 23. Nov. Reichskanzler Cuno Hai
nunmehr sein Kabinett beisammen. Auch das Nutzen-
und Innenministerium ist jetzt besetzt, und zwar so,
wie wir es gestern bereits mittrilten. Außen-'
Minister wird der bisherige Gesandte in Kopen-
hagen, v. Rosenberg, ein unbeschriebenes Blatt,
das vermutlich se. ente nicht die Gesetze des
Handelns oorAHreiben wird. Reichs,uinister des

WMM 'M MlwmM
 
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