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- 771 -

Aber weeßte, Jacob, janz unter uns lesagt, jekitzelt hätte et mir doch
mächng, wenn ick den Posten jekriegt hätte. Ersten« mal, Wat meenste woll,
Wal ick vor'n Bramstjcn in de Reichsdagssitzungen jemacht hätte, wenn ick
so neben Böttichern jesessen hätte! 'n Bleistift hätte ick mir anjeschafst, so
lang wie 'ne Telejraphenstange, damit hätte ick mir denn Notizen jemacht,
so jroß, det se se von'n Blond runter hätten lesen kennen. Na, Jacob, un
denn der stolze Moment, wenn der Präsident jesagt hätte: „Der Herr
Reichskanzler Naucke hat das Wort!" Oder jloobste vielleicht, det ick denn
schon „von" Naucke jeworden wäre? Blauet Blut habe ick noch nich, 'n
blauet Ooge habe ick mal in eene Neijahrsnacht jehabt — aber det verjing
wieder. Na also, „der Herr Reichskanzler Naucke hat das Wort!" Ick
denn uff, mit 'ne befehlende Handbewejung hätte ick mir denn een Jlas
Cognak — ohne Wasser — von den dienstbaren Jeist kommen lassen, davon
hätte ick denn mal derbe jenippt, un denn wäre et losjejangen. Eiwei, un
alle meine Fremde un Bekannten hätten uff de Tribienen sitzen missen, un
det kann ick Dir sagen, lieber Jacob, die hätten denn Alle janz bestimmt
jesagt: „Nee, sonnen Reichskanzler, wie Jotthilf Eener is, den kriegen wir
so leichte nich wieder!"

Det Reden nutzt ja nu ooch weiter nischt, Caprivi iS Reichskanzler
jeworden, ick brauch' also nich rin in det Reichskanzlerpaläh, sondern ick
bleibe ruhig hier an'n Jörlitzer Bahnhof un bejniejc mir wie bisher mit
Stube, Kammer, Küche un frei Licht bei Dage.

Von de Arbeeterschutzkonferenz hat man nich ville zu Heeren jekricgt,
de Franzosen sollen sich mal bei'n Wickel jekricgt haben, weil Eener nich
mit die Andern mitduhn wollte. Jenauet habe ick leider nich in Erfahrung
bringen kennen, weil se mir in den Sitzungssaal nich rinlassen, da kommen
blos Leite aus feine Familien, wie de Familie Buchholz eene zu sein scheint,
rin — na, un ick bin mit Buchholzens jarnich verwandt. Sollte ick aber
noch nachträglich wat erfahren, dann theile ick et Dir telejraphisch mit, denn
ick weeß, Du bist zwar nich neijierig, aber wissen möchtest Du doch jern
Alles. De Hauptsache is, det Berlin trotz de Arbeeterschutzkonferenz ruhig
bleibt, un det se et hier nich so machen wie in Köpnick, wovon De jcwiß
ooch in de Zeitungen jelcsen hast. Da hat de Flinte jeschossen un der Säbel
jehauen. Aber jloobe blos nich Alles, wat in de Blätter steht; wir wollen
mal erst ruhig de Jerichtsverhandlnng abwarten, da wird sich ja hoffentlich
rausstellen, wer de eijentlichc Schuld an die Krawalle hat. Meine Meinung
is, det mit Keilereien un so wat vor unsere Sache ieberhaupt nischt jedahn
werden kann; je ruhijer unsere Leite bleiben un je sachlicher se sich ieber
unsere Prinzipien unterhalten, desto mehr nutzen se sich; Geusdarmen un
Polizisten werden wir niemals ieberzeijcn un det brauchen wir ooch nich.

Un uff de Alljemeinheit macht et keenen juten Jndruck, wenn jcschossen wird;
det is blos Wasser uff de Mille von de Polizei, die uns dann erst recht unterkriegt.

Jn'n preiß'schen Landdag sind se ja wieder mal riesig mit de Judenhetze
in'n Jangc jemesen; Stöcker hat 'n Paar Reden jehalten, ick sage Dir, da
konntest De Dir dran wärmen. Det Scheenste is, det nischt so heiß jcjesscn
wird, wie et jekocht wird, sonst kennte sich Herr Stöcker mal riesig den
Schnabel verbrennen. Puttkamer, selijen Anjedcnkens, war ja ooch in det
Fojeh von'n Landdag un bei de Verhandlungen hat er in 'ne Loje jesessen
un hat beifällig jenickt, wie Stöcker davon aufing, det et nu doch endlich
Zeit wäre, det man de Juden braten mißte. Ick bin an den Dag zufällig
vor'n Landdag vorbeijcjangen, wie er drin war, un da habe ick mir in de
janzc Leipzijerstraße umjesehen, ob er vielleicht schon aus Hintcrpommern de
Kanonen mitjebracht hat, mit die er det jroßc Loch in'n Himmel schießen
will: aber et waren kcene da — womit ick verbleibe erjcbenst un mit ville

Jotthilf Naucke.

An' Jörlitzer Bahnhof jleich links.

Hobelspiihne.

„Bismarck hat Deutschland in den Sattel ge-
hoben, aber nun muß es allein reiten", klagen die
Kartellbrüdcr. Ich finde das gar nicht beklagenr-
werth, denn das selbständig reitende Deutschland
wird hoffentlich nicht mehr aus Schutzzöllnereicn
und Ausnahmegesetzen hcrumrciten.

* *

*

Reichstag, laß begrüßen dich I
Auf dein Wohl ich trinke!

Deine Rechte meide ich —

Reich' mir nur die Linke!

* *

*

Die unglücklichsten Menschen sind gegenwärtig
die Streber. Sie wissen gar nicht, ob es sich
besser lohnt, nach vorwärts oder nach rück-
wärts zu streben.

* *

Ich habe mir immer etwas auf meine Berufstüchtigkeit eingebildet,
aber ich bekenne: der Zeitgeist ist doch ein größerer Schreiner, wie ich,
denn es ist ihm gelungen, den eisernen Kanzler abzusägen.

Ihr getreuer Säge, Schreiner,

Jrieße Dein tretet

stellige' ließ, daß ich alle' meine Miethslcit de Zins freiwillig um e' gutes
Dechl 'runner setze' duh. G'sagt, gedahn! Am ärmere Marge' haw ich
mich an mei' Pult g'setzt un' an een jede vun de Miether g'schriebc', daß
er m'r beim nächste Quartal statt wie bisher so un' so viel, norr noch so
un' so viel zu bezahle' Hot. Wie das g'schehe' war, haw ich mer mei' Pfeif'
g'stoppt un' dann der Dinge, die da komme' sollte', mit Schmunzeln ge-
wartet. Un' sic kamen die Dinge, awer ganz annerscht, als ich geglaubt
haw. 'S war nämlich ung'fähr so c' Stund verflösse', seitdem ich die Brief
vum mei'm Dicnstmädel an die betreffende Adresse hatv ablicfere lasse', als
's an mei' Diehr ankloppt un' uff mei' „Herein" de Miether vum zwcete
Stock in mei' Stub' eintritt. „Gute Morge', Herr Huber", seggt er zu
mer un' betracht mich dabei mit eine merkwürdig scheue' Blick vun owe bis
unnc, „Sic entschuldige gitigst, wenn ich Sie stör', awer ich wollt' Ihne'
norr sage', daß ich bis zum ersten des nächsten Monats (er war am nächst-
folgenden Tag) auszieh'." „O, das duht mer awer leed", haw ich do druff
erwidert, „so schnell schun?" — „Ja, ich bin Knall un' Fall nach Heidel-
berg versetzt worre", seggt der Miethsherr un' schwupp war er zur Diehr
draus. Kaum daß ich die Zeit g'habt haw, mei' ausg'angene Pfeif' wieder
in Brand setze' zu könne, hot's abermals angekloppt, un' diesmal is der
Miether aus'm dritte Stock in's Zimmer kumme. Aach der musterte mich
mit eme sonderbare Blick un' sangt dann an: „Herr Huber, 's duht m'r
leed, awer ich muß heit noch bei Ihne' ausziehe'. Der Dokter hot gesagt,
mei' Fraa muß so schnell als möglich vun „Manncm" (Mannheim) weg,
sie kann die Luft hier nit vertrage'." „O, das bedaure ich sehr, mei' lieber
Herr Schmelzer", haw ich g'sagt, „awer was is da zu mache? Die G'sundheit
geht vor Allein I So reise' Sie denn mit Gott un' wünsch' ich Ihrer Fraa
e' recht gute Besserung."

„Merci", seggt er, un' schwupp fliegt er wie der vorige Miether ordentlich
zur Diehr 'naus. So is ce' Miether um de annere kumme un'n jeder Hot
e' annere Ausred' gewitzt, die's'm möglich gemacht Hot, am annere Dag
ausziehe' zu könne'. Am Dag d'ruff war mei' Haus leer g'stanne. Ich
war starr vor Entsetzen! So is mir mei' Gutthat belohnt worre, Jakobelei —
Am annere Dag, wie ich zur Erholung vun mei'm Aerger ob des Undankes
der Welt e' bissel iwer de „Necker" spaziere gange bin, begegnet mer mei'
frühere Miether vum fünfte Stock hinnenaus, 's is een Eise'bahnarbeiter
mit acht lewendige Kinner, dem mei' Zinsabschlag doch gewiß gut kumme
wär'. Hollah, denk' 'ch, den fragst jetzt mal, was dann eigentlich in die
Leit 'neing'fahre is, daß sie all' vun mer ausgezoge' sin? „Sie, Herr
Dämmler", ruf' ich',» zu, als er sich ewc an mer vorbeidrücke' will, „Sie,
uff e' Wort! Sage Se mol, die Hand ufs's Herz, Herr Dämmler, was
hot Sie denn un' mei' iwerige Miethslcit bewöge', vun mir auszuziehe'?
Denn, was die Ausrede' anbelangt, die glab' ich nit".

„Herr Huber", seggt der Eise'bähnler un' werd vor Verlegenheit seier-
roth im G'sicht, „erspare' Se m'r, daß ich Ihne' die gräßlich' Wahrheit sag'!"

„Dunnerwctter", ruf' ich ärgerlich aus, „sind Sie verrückt oder ich?" |

„No", meent er, „wenn Sie's selber sroge, dann kann ich's Ihne' jo
sage: Sie sind verrückt! Dann norr e' verrickder Hanswird kann'
freiwillig de Micthszins 'runncrsetzc!"

Jetzt war's am Dag! Die Leit hawe mich ob meiner Generosität for
närrisch g'halte' un' sin' vor lauter Angst, mit eme Narr nit länger unner
eem Dach wohne' zu misse', sofort ausgezoge'!
 
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