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802

Der grotze Mangel. -

Wir Deutsche, wir sind ;u beneiden,
Wir leben so glücklich, so frei,
Verschont stets von Runrnrer und Leiden,
Und schwelgen in Wohlstand dabei.
Nur Eines wir müssen enlralhen,

Was bitter betrübt unser Herr:

Wir haben ;u wenig Soldaten,

Das ist unser gröhter Schmer;.

Es jubelt iur Avther die Lerche,

Der Sonne hell leuchtender Strahl
Blinkt freundlich wohl über die Berge
Herab in das fruchtbare Thal.

Es blühen und reifen die Saaten,
Doch alles kann trösten uns nicht.
Wir haben zu wenig Soldaten,

Der Moltke ja selber es spricht.

Wie üppig auch duften die Rosen,

Wir funkelt der Leuchtkäfer Heer —
Wir denken nur an die Fransofen,

Die haben so viel Militär.

Leicht kann ein Spion uns vrrrathen,
Daun kommen ste stracks nach Berlin—
Wir haben zu wenig Soldaten,
Fregatten uud Batterien.

Drum Reichstag, ozeig' dich rrbötig,
Gieb schnell die Millionen her,

Wir haben ja nichts ivritrr nöthig,
Als viel, nur recht viel Militär.

Und blieb' hinter anderen Staaten
Man in der Kultur selbst zurück, —
Ach, haben wir viele Soldaten,
Das ist unser einziges Glück I

Berlin, Ansang Juni.

Lieber Jacob!

Weeßte, Jacob, det mußt De nu doch selbst sagen, solange wie De mir
kennst, bin ick niemals derjcnigte jewesen, der vielleicht Stiebclwichse jejessen
hat. Janz in't Jejcntheil, ick bin sehr vor de Jemiethlichkcit, un wenn et
nich jrade ncethig is, denn rempele ick so leichte Keenen an. Un denn
freie ick mir ooch, wenn andere Leite so nach un nach dahinter kommen,
det man mit Jrobheiten alleene nich durch de Welt kommt. Ick habe, um
jleich mit de Dhier in't Haus zu fallen, de letzten Reichsdagsitzungen mit
die Ufsmerksamkeit verfolgt, die eenen hohen Politiker von meinen Rang
zukommt. Un da habe ick denn jcfunden, det der Ton, der bei die Herren
jetzt herrscht, doch -een ville anständijcrer jeworden is, wie frieher. Det jeht
jetzt so fein zu, det et Eenen orndlich fremd vorkommt, aber ick kann jerade
nich sagen, det sich de Sache in'n Alljemecncn verschlechtert hat. Vielleicht
liejt et daran, det Pultkamer nu nich mehr uff de Ministerbank sitzt, un det
ihn det wurmt, det er nu zwischen de jewehnlichen Abjeordneten Platz nehmen
mußte, un det sein jroßer Kousin, uff den er ja sonst immer so jroße Sticke
hielt, ieberhaupt janz un jar von de Bildfläche verschwunden is. Na, de
Zeiten ändern sich, det muß man sagen, un det Eenzije, wat man nu noch
von die jroße Politikerfamilje hcert, det sind de Berichte, die in de Zeitungen
stehen, worin der jroße Privatmann aus Frndrichsruh seine Meinung ieber
de eiropecsche Politik Ausdruck jiebt. Na, ick vor mein Theil bin nu jar-
nich jespannt dadrnff jewesen. Denn wat nutzt mir denn de Ansicht von
Eenen, der ieberhaupt nischt mehr mitzurcdcn hat? Aber wenn Eener mol
mitrejiert hat, denn denkt er naticrlich, ohne ihn jeht det ieberhaupt nich
mehr; aber et is een ollet Sprichwort, det jeder Mensch zu ersetzen is, un
wer det nich jloobt, der zeigt damit blos, det er bei alle Schlauheit doch
manchmal in'n Thran treten kann.

Wat mir am Meisten wundert, is, det Puttkamer bis jetzt wenigstens
noch keenen Ton von sich jejebcn hat. Weeßte, Jacob, frieher, da saß ick
mal uff de Tribine von'n Neichsdag, un da brachte Eener von unsere Ab-
jeordncten sonne feine Slickchen vor, wie se seine Leibjarde von Spitzeln
unter det Sozialistenjesetz so oste ansjcfllhrt hatte. Ick hätte dir blos je-
wünscht, lieber Jacob, du hättest danrals det Jesicht von den Herrn Minister
jcsehcn. Erst kiekte er nach de Decke, als wollte er sich det Jahnen verkneifen,
un denn bekickte er sich seine Stiebcl, als wollte er sagen: „Du kannst lange
reden, eh' mir een Wort jefällt." Dabei dcrsste aber nich verjessen, lieber
Jacob, det et sich um det Wohl nn Wehe von eene Unmasse von Familien-
väter handelte, um arme Weiber un Kinder, die weiter nischt jedahn hatten,
als det ihre Ernährer vor Recht un Wahrheit intraten. Aber natierlich,
det langweilte „Seine Exzellenz", er hatte ja nischt davon auszustehen, er-
saß ja warm in sein Ministerhotel, un der Staat war jebet Mal jerettet,
wenn er uffstand un mit seine aristokratische Hand seine aristokratischen Bart-
koteletten strich. Na, mir lief damals de Jalle ieber, aber natierlich durfte
ick nischt sagen, weil de Tribienenbesucher überhaupt ihre jeehrte Speise-
anstalt halten missen.

Heite natierlich is de Sache anders — aber heite muckst sich „Seine
Exzellenz" ooch nich. Un dabei hätte er doch sonne scheene Jelejenheit dazu
jehabt. Et is zwar noch nicht ville vorjekommen von unsere sozialpolitischen
Vorlagen, aber er hätte doch wenigstens een Mal det Wort erjreisen kennen
— aber nich in de Hand! Wat mcenste woll, Jacob, wie sie ieber den
Kollegen herjefallen wären? Von Levetzow hätte in eenen fort mit die
Jlocke bimmeln müssen, — un det hätte ick vor amüsant vor die Tribinen je-
haltcn, un hätte mir eenen Ast jcfreit wie 'ne Erbse jroß. Doch det Scheenste
is, det er in seine Art ja nu ooch seine „eklatanten Jenugthnungen" erlebt.
Ick habe nämlich neilich in de Zeitungen jelesen, det von jetzt ab unsere

Das verunglückkr Reptil.

Zeitgemäße Erzählung von Hans Flux.

o kann cs nicht weiter gehen, lieber Doktor!" sprach erregt Frau
Knorr, eine lange klapperdürre Gestalt, die im Zimmer auf- und
abschritt, „nein, so kann cs nicht weiter gehen. Mein Tochter
kommt in das Gerede."

Herr Jermias Schleicher, an den diese Worte gerichtet waren, saß ganz
zerknirrscht in einer Ecke. Er wußte die Bedeutung des eben Gehörten wohl
zu schätzen, denn die Dame, die zu ihm sprach, war seine künftige
Schwiegermutter.

Am Fenster saß Gleichen, die Braut des Doktors, die wie Glauben,
Lieben und Hoffen aussah. Sie besaß die Garantie, genau so wie ihre
Mutter zu werden. Heute zerdrückte sic eine Thräne.

„Ja", lispelte sic, „ich verfalle dem Gespött. Heute schrieen mir
einige Straßenjungen nach, ich würde wohl eine ,ewige Braut' werden."

Jeremias sank noch tiefer in sich selbst zusammen.

Er hatte Theologie studirt und war soeben zum zweiten Mal im Examen
durchgefallcn. Zwar titulirte ihn seine künftige Schwiegermutter deshalb
doch Doktor, aber ihre Träume von einer wohlbestallten Pfarrei, wo ihre
Tochter so gut versorgt sein konnte, waren zerflossen. Mutter und Tochter
hatten mit Sehnsucht das Examen abgewartet, denn Frau Knorr gehörte
zum Stande der sogenannten Knackwurst-Privatiers, die zu träge sind, etwas
zu arbeiten, deren Rente aber zu klein ist und die deshalb oft auf Knack-
lvürste angewiesen sind. Nun war Alles aus.

„Sie sagen gar nichts!" fuhr Frau Knorr den liessinnig dasitzenden
verunglückten Kandidaten der Theologie an.

„Was soll ich denn sagen?" antwortete er. „Ich werde mir eine
Stellung suchen!"

„Jeremias", flüsterte Gleichen, „ich bleibe Dir treu!"

„Aber nicht bis in die aschgraue Ewigkeit!" sagte die Mama.

Jeremias nahm seinen Hut und stürmte hinaus. Ja, was thun unter
solchen Umständen!

Je mehr er nachdachte, desto fester war seine Ueberzeugung, daß es

gar nicht so leicht sei, sich eine Stellung so ohne Weiteres zu verschaffen.
Und ein verunglücktes Examen, ach, welch eine schlechte Empfehlung!

Wie er so dahinschlich und sich in die Tiefen seines Elends versenkte,
kam ihm der würdige Geheimrath Dr. Schmiegsam entgegen. Er war
freundlich und leutselig wie immer. Jeremias, der mit dem Gehcimrath
wohl bekannt war, obschon er eigentlich nicht recht wußte, worin dessen
Thätigkcit bestand, beschloß sich diesem Manne anzuvertrauen und ihn um
Rath zu bitten, wie er sich aus seiner schwierigen Lage Helsen könne.

Der Geheimrath hörte ihm aufmerksam zu.

„Hm!" meinte er, als Jeremias sich ausgesprochen, „einen verfehlten
Berufsmenschen kann ich aus Ihnen schon machen."

Jeremias sah ihn verzweifelt an. Der Geheimrath aber fuhr fort:

„Ich will Sie unterbringen, gut unterbringen. Aber Sie müssen sich
Mühe geben; was ich verlange, ist nicht wenig."

Jetzt leuchteten die Augen des durchgcfallcnen Kandidaten freudig auf.

„Ich will Alles thun", sagte er hastig. „Sagen Sie mir nur, was ich
thun soll."

„Zunächst", sprach der Gehcimrath, „müssen Sie auf Verlangen be-
weisen können, daß zwei mal zwei vier und auch, daß zwei mal zwei fünf ist."

Jeremias sah ihn enttäuscht an. „Sie treiben Spott mit mir", sagte
er schmerzlich.

„Keineswegs", meinte der Geheimrath. „Aber Sic müssen noch mehr
können; Sie müssen auch flott beweisen können, daß Dinge wahr sind, die
Sie selbst nicht glauben."

„Sie sprechen in Räthseln, Herr Geheimralh", stotterte Jeremias.

„Na", meinte llr. Schmiegsam, „Sie werden schon begreifen. Sehen
Sie, ich stehe mit der politischen Abtheilung des Preßburcaus in Ver-
bindung."

„Ah", meinte Jeremias, „jetzt geht mir ein Seifensieder auf."

„Aha", fuhr der Gehemwath fort, „es dämmert. Verstehen Sie
mich nun?"

„Vollkommen."

„Und war meinen Sie?"

„Nun, ich soll eben ein Reptil werden!"

„Hahaha!" Der Geheimrath wollte sich auSschültcn vor Lachen. Er
schlug dem jungen Mann derb auf die Schulter.
 
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