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Nr. 106 des „Wahren Jacob" gelangt am 16. August 1800 zur Ausgabe.

84«

Die Vorkämpfer des französischen Proletariats.

»MUMM

Julcs Gucsdc.

Unter den Vertretern des Sozialismus im heutigen Frankreich stehen die
vier Männer, deren Porträts wir heute den Lesern darbieten, unzweifelhaft
mit in erster Reihe. Was immer sonst die Gegner gegen sie Vorbringen
mögen, die hervorragende Bedeutung von Eduard Vaillant, Paul Lafarguc, Jules
Guesde und Gabriel Deville wird von Niemand bestritten. Und nicht nur durch
ihre geistige Begabung, sondern auch durch ihre Hingebung und Ueberzeugungs-
treuc, die sich in den Zeiten wirklicher Gefahr bewährt hat, haben diese Männer
Anspruch auf die erwähnte Auszeichnung erworben. Kein Makel ruht ans
ihnen, keine Handlung kann ihnen nachgesagt werden, die ihren Mnth und
die Reinheit ihrer Bestrebungen in Zweifel stellen könnte.

Alle vier entstammen der Klasse des Bürgerthnms. Als junge, feurige
Studenten haben sie sich, wie zur Zeit, da sic ins Leben eintraten, so viele
der jungen Musensöhne, ins Lager der äußersten Opposition geschlagen.
Aber was bei den meisten dieser jungen Himmelsstürmcr nur Episode, wurde
bei ihnen zur Epoche, entscheidend für die ganze Lcbenslansbahn. Sic begnügten
sich nicht damit, die Phrasen
des Radikalismus nachzuspre-
chen, sic schwammen nicht mit
dem Strom, uni mit dem Gegen-
strom den Weg zu den Fleisch-
töpfen einer angenehmen bür-
gerlichen Existenz, einer guten
Anstellung zurückzutreiben,
um ans Himmelsstürmern zu
Skeptikern, ans Skeptikern zu
Zynikern, aus Zynikern zu
Frömmlern zu werden — wie
ja gewöhnlich der Entwicklungs-
gang ist, sie gingen den Dingen
tiefer auf den Grund und wur-
den ans sozial! stelnden „Revo-
lutionären" wirkliche Soziali-
sten. Sie cmanzipirten sich von
der hochklingenden bürgerlichen
Phrase und studirtcn die Be-
dürfnisse und die Interessen der
Arbeiterklasse, in deren Lager sie
seitdem zu finden sind, und für
deren Emanzipation sie in Wort
und Schrift zu wirken suchen.

Der Acltcstc von ihnen,

Eduard Vaillant (geb. am 28.

Januar 184» in Vierzon, Dep.

Cher), war Mitglied der Pariser
Kommune von 1871. Der nur
um wenige Monate jüngere
Paul Lafarguc (geb.,1840 auf
Cuba) sowohl lvie dessen lang-
jähriger Waffenbruder Jules
Guesde (geb. 1845 in Paris)
haben zur Zeit der Kommune
in der Provinz für dieselbe ge-
wirkt, und Gabriel Deville, der
Jüngste der Bier (1854 in
Tarbcs in den Pyrenäen ge-
boren), hat als einer der Ersten,
die nach der Kommune, und
zwar noch unter dem Regime
Mac Mahon's, in Paris die
Fahne des Sozialismus erho-
ben, sich im Verein mit Jules
Guesde große Verdienste um die
Bewegung zu Gunsten der Amncstirung der Kommunekämpfer erworben.

Eduard Vaillant, der sowohl das Jngenienrexamcn wie das medi-
zinische Staatsexamen abgelegt hat, der ans deutschen Universitäten stndirt, in
England als Arzt praktizirt hat, hat in nunmehr sechsjähriger Thätigkcit
im Pariser Gemeinderath sich als ein ebenso gewissenhafter wie energischer
Anwalt der Arbeiterinteressen erwiesen. Seiner durch Sachkenntniß aus-
gezeichneten Thätigkcit ist es mit zuzuschreiben, daß die Stadt Paris in
Bezug ans den Arbeiterschutz heute, wenn auch noch nicht Mustcrgiltiges —
dazu ist der Bourgeoiscinfluß noch zu stark — so doch mehr leistet, als
irgend eine andere Stadt in Europa. In politischer Hinsicht ist es haupt-
sächlich seinem Einfluß znzuschreiben, daß ein großer Theil der Blangnisten
die unfruchtbare, oder vielmehr direkt schädliche Revolutionsphrase aufgegebcn
und das sozialdemokratische Programm in seinen Hauptzügen angenommen hat.

Paul Lafarguc hat nicht nur die französische Arbeiterbewegung mit
einer Reihe von Propagandaschriften versehen, die zu dem Besten gehören,
was der Sozialismus aller Länder ans diesem Gebiet besitzt, er hat nicht
nur in Wort und Schrift die französischen Arbeiter mit den Grundlehren
des wissenschaftlichen Sozialismus bekannt gemacht und, im Verein mit
Guesde und Deville, den verschwommenen Proudhonismus erfolgreich be-
kämpft, er hat auch sehr bemcrkcnswcrthc Forschungen ans dem Gebiet der
Anthropologie gemacht, die ihm die Spalten der wissenschaftlichen Revuen
Frankreichs und des Auslands geöffnet haben. Den deutschen Parteigenossen

Eduard Vaillant.

Paul Lafarguc.

ist er durch seine vortrefflichen Aufsätze in der „Neuen Zeit" ganz besonders
nahegctreten. Als Schriftsteller ist er ein geborener Satiriker, die südliche
Lebhaftigkeit, die dem Politiker nicht immer vortheilhaft ist, kommt hier zu
ihrer vollen Geltung,' aber wie die Komiker und Witzmacher im Privatleben
meist unausstehliche Grillenfänger sind, so ist der in seinen Schriften so oft
bissig-sarkastische Lafarguc persönlich einer der gutmüthigsten und liebens-
würdigsten Menschen.

Jules Guesde ist sowohl als Schriftsteller wie als Redner ein agita-
torisches Talent ersten Ranges. Trotz seines unzulänglichen, oft geradezu
unschön klingenden Organs reißt er durch seine klare, packende, an treffenden
Bildern reiche Sprache die Hörer bis zur Begeisterung hin. Eine Szene,
der der Schreiber dieses beiwohnte, ist in dieser Hinsicht typisch. Es war
in Lyon in ein.er Volksversammlung. Gucsdc sprach, und seine Rede wurde
fortgesetzt von Applaus unterbrochen. „Ich bitte euch, laßt doch das Klatschen",
sagte er nach einer solchen Salve, „ich plaudere ja nur mit euch." „Mais

nos coeurs vous applaudis-
sont“, gab ihm ein Blusen-
man» aus dem Saal zurück,
und das war wirklich das
rääpsr'' richtige Wort. „Aber unsere

^ j Harzen ^ a^plaudiren ^Jhnen.^

^& vielleicht in mancher Beziehung
llillll I besser in Frankreich stehen.

den letzten Jahren Wenigs

politischen Führerschaft ver-
anlagt ist. Er ist mehr Vor-
tragender als Redner, mehr
Buchgclchrter als Journalist.
Dennoch würde man irren,
wenn man nur den Erstcren
in ihm suchen wollte. Daß er,
wenn die Verhältnisse ihm ein
Eingreifen als nothwendig er-
scheinen lassen, sehr wohl der
Initiative fähig ist, hat er
Ende der siebziger Jahre ge-
zeigt, wo er'die Kandidatur
Blangui zu Wege brachte; und
welcher Energie der für gc-
wöhnlich so zurückhaltende und
ruhige Deville fähig ist, davon
wissen die Besucher des Pariser
Internationalen Arbeitcrkon-
gresses ein Lied zu singen.

Aber noch etwas Anderes
haben die Besucher jenes Kon-
gresses gesehen. Sie haben ein
Bild davon bekommen, wie
schwer cs hält, das leichterregte
Völkchen jenseits der Vogesen
zusammenzubringen, und wie viel schwerer noch, sic zusammenzuhalten. Die
langsame, zähe Arbeit des Organisirens widersteht dem lebhaften Naturell
der Franzosen, und die Disziplin kennen sie eigentlich nur in den Zeitläuften
größerer Aktionen. So haben sic cs wohl zu Vereinen und Gruppen, aber
noch immer nicht zu einer wirklichen sozialistischen Arbeiterpartei, die diesen
Namen verdient, gebracht. An Leuten, die die Nothwendigkeit einer solchen
einsehen, fehlt cs durchaus nicht, auch nicht an Leuten, die das Zeug und
den guten Willen zu all jenen Arbeiten haben, die zur Schaffung einer Partei
nothwendig sind. Unendlich viel Mühen und Opfer sind schon zu diesem Zweck
gebracht worden, eine Literatur ist geschaffen worden, die sich vor der keines
Landes zu verbergen braucht, aber anscheinend alles vergebens, die Partei will
noch immer nicht ins Leben treten. Indes; ein Resultat ist doch gewonnen
worden, und zwar ein nicht zu unterschätzendes. Die Grundsätze des modernen
Sozialismus sind in die Massen gedrungen und haben dem Proudhonismus,
wie überhaupt allem kleinbürgerlichen Sozialismus den Garaus gemacht.
Selbst die Possibilistcn müssen dem Rechnung tragen und unterscheiden sich
fast nur noch in der Taktik von den übrigen Sozialisten. So ist der Boden
geebnet, daß wenn der rechte Moment kommt, wenn die Verhältnisse selbst
die Disziplin erzwingen, die heute fehlt, die neue Partei, vom Ballast der
alten Doktrinen frei, voll und ganz dem modernen wissenschaftlichen Sozialis-
mus huldigen wird. Und daß dem so ist, ist hauptsächlich das Verdienst von
Ed. Vaillant, P. Lafarguc, Jules Guesde und G. Deville.

Gabriel Tcbillc.

ptedailiciu Ecorg Lasier; Bruck und Bertag: I H. SB. Dietz, beide in Stuttgart.
 
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