Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
890

Vom Parteitag

Rücklrli ck.

„Seit Jahrtausenden schon predigt man dem
Volke vor von Nächstenliebe und Brüderlichkeit
aller Menschen; die Gegenwart verlangt, daß
in Handel und Wandel, in Staat und Gesellschaft
man endlich Ernst mache mit der Lehre!"

Johann Jacoby.

Die ganze Kulturwelt ist erfüllt von heißer Sehnsucht nach Erlösung
aus unerträglichen Zuständen. Ueberall regt sich der Unterdrückte in unab-
lässigem Ringen um ein besseres Loos. Die Lehre vom Vorrecht des Besitzes
ist erschüttert. Die Behauptung alter Philosophen, der Arme sei auf immer
zur Knechtschaft bestimmt, findet keinen Glauben mehr. Die Geister, die
wohl das Morgenroth allgemeiner Menschenrechte begrüßten, aber zaghaft
Halt machten an der gewaltigen Kluft zwischen Reich und Arm, sic haben
einer neuen Strömung Platz machen müssen. Diese geht davon aus, daß
alle Menschen, und nicht nur eine kleine Minderheit, zum Glück und zum Genüsse
berechtigt und bestimmt sind. Der Ruf nach Gerechtigkeit hallt über die weite
Erde. Die lebendige Arbeit, dieser mächtigste Hebel allen Kulturfortschritts,
soll das herrschende Prinzip in der Gesellschaft sein und nicht der todte Besitz.

Das arbeitende Volk faßt seine Wünsche und Hoffnungen zusammen im
Sozialismus, der die Lösung des großen Räthsels enthält, an dem sich
so Biele vergebens abgearbeitet haben. Er wird die Sphinx unserer Zeit,
das grause Massenelend, in die ungeheure Kluft Hinabstürzen, die inmitten
unserer Gesellschaft gähnt, und die Kluft wird sich schließen.

Diese Aufgabe ist die größte, an der die Menschheit jemals gearbeitet
hat. Es ist kühn, ihre Lösung aNzustreben. Aber sie ist zu lösen. Denn
die Macht des Geistes, die sich für sie in Bewegung setzt, ist die größte, die
es gicbt. Die ganze leidende Menschheit arbeitet mit Und schon ist die
Lösung angebahnt; der Sozialismus ist eine Weltmacht geworden und hat
in allen Kulturländern siegreich sein Banner entfaltet.

Umsonst suchen die herrschenden Klassen den Sozialismus als eine Utopie
darzustellen und ihn mit allerlei fremden Zuthatcn zu verfälschen. Sie be-
haupten lügenhafter Weise, er würde zu schlimmeren Zuständen führen, als
die heutigen, und sei im Grunde nur ein gewagtes Experiment.

Und wenn alle die unheilvollen Wirkungen, die man dem Sozialismus
andichtet, zur Thatsache werden würden, so würden wir doch noch unter
tausendmal besseren gesellschaftlichen Zuständen leben, als heute.

Der deutsche Sozialismus, wissenschaftlich vertieft und auf demokratischen
Grundlagen prinzipiell gefestigt, wie in keinem anderen Lande, marschirt an
der Spitze der großen Kulturbewegung unserer Zelt.

Die Kongresse sind die Stationen auf dem Vormarsch der Sozial-
demokratie. Sie gewähren uns einen Ausblick auf das gewonnene Gebiet.
Der vorwärts strebende Gedanke kann hier einen Augenblick Halt machen
und die durchmessene Bahn läßt sich überschauen.

Schauen wir einmal zurück in diesen Tagen, da nach den zwölfjährigen
Leiden eines harten Ausnahmezustandes die Vertreter der deutschen Sozial-
demokratie zum ersten Mal wieder im Vaterlande sich versammeln können
und nicht mehr auf die Gastfreundschaft des Auslandes angewiesen sind!

Aus.kleinen Anfängen ist die deutsche sozialdemokratische Bewegung
hervorgegangen. Der deutsche Sozialismus ist nicht, wie unwissende Leute
behaupten, ein „importirtes Gewächs". Sozialistische Ideen hat es schier

tu Haüö a. S.'

überall und schier zu allen Zeiten gegeben. Aber erst unserer Zeit blieb cs Vor-
behalten, die einzelnen Gedanken zu einem bestimmten gesellschaftlichen System
zusammenzufassen. Man darf wohl sagen, daß es einen modernen Sozialismus
erst giebt, seitdem die Abschaffung der Lohnarbeit und die Ersetzung
derselben durch die freie genossenschaftliche Arbeit gefordert worden ist.

In Deutschland machte sich zuerst eine volksthümlichc sozialistische Be-
wegung im Rheinland bemerkbar und zwar in den dreißiger und vierziger
Jahren. Damals blühte auch rasch eine reiche und gehaltvolle sozialistische
Literatur auf. Marx, Engels, Moritz Heß u. A. wirkten schon in jener
Zeit am Rhein und hüteten die sozialdemokratische Idee sorgfältig vor jeder
Verfälschung durch kleinbürgerlichen oder feudalen Aftersozialismus. Ihnen
gesellte sich im Revolutionsjahr 1848 Ferdinand Lassallc, der am Rhein
die sozialistischen Ideen in sich aufnahm. Die Niederlage des deutschen,
demokratischen und liberalen Bürgerthums nach der Erhebung von 1848
warf auch die sozialistischen Anläufe zurück.

Im Mai 1803 gründete Lassallc in Leipzig den Allgemeinen deutschen
Arbeiterverein und gab damit den Anstoß zum Wiederaufleben der fast
ganz erloschenen sozialistischen Bewegung in Deutschland. Er forderte Produktw-
Assoziationcn mit Staatshilfe und allgemeines Wahlrecht. Das Auftreten
dieses glänzenden Geistes-, so kurz auch die Zeit seines agitatorischen Ein-
greifens war, zog die Blicke der ganzen politischen Welt auf sich. Der All-
gemeine deutsche Arbeiterverein hatte nach dem tragischen Tode seines Gründers
schwere innere Kämpfe zu überstehen, die seine Entwicklung hemmten. Aber
die Arbeiterbewegung war einmal in Fluß gebracht und die von Lassalle
ausgestreute Saat mußte aufgehen.

Zur selben Zeit ungefähr, da Lassallc seiner im Zweikampf erhaltenen
tödtlichen Verwundung erlag, stifteten Karl Marx und Friedrich Engels,
die beiden. Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus, in London die
internationale Arbeiter-Assoziation. Dieser großartige Bund der
Arbeiter aller Kulturländer besteht heute m seiner ursprünglichen Form nicht
mehr, aber sein Wahlspruch: „Proletarier aller Länder, vereinigt
Euch!" ist heute überall zum Feldgeschrei der sozialistischen Arbeiter ge-
worden. Die Anhänger der Internationale in Deutschland gingen mit dem
Allgemeinen deutschen Arbeiterverein nicht zusammen, da die Führer beider
Richtungen damals eine verschiedene Politik befolgten, was zu heftigen
Fehden zwischen den so nahe verwandten Parteien führte. Der Allgemeine
deutsche Arbeiterverein unter 'der Leitung des Herrn von Schweitzer hielt
verschiedene Generalversammlungen zu Erfurt, Braunschweig, Elberfeld rc.
ab, auf denen er an der alten Organisation Lassallc's festhielt; die Anhänger
der Internationale aber, hauptsächlich Liebknecht und Bebel, beriefen
einen Kongreß nach Eisenach und begründeten dort 1869 die sozialdemokratische
Arbeiterpartei mit dem Eisenacher Programm, nachdem im Jahr zuvor
auf dem Berbandstag zu Nürnberg die verbündeten deutschen Arbeitervereine
sich den Händen der Bourgeoisie entrissen hatten. Damit hatte die Anregung,
die Marx und Engels in London gegeben, auch in Deutschland praktische
Gestalt gewonnen und die Gedankenarbeit dieser beiden genialen Männer
gab der deutschen Arbeiterbewegung einen erneuten mächtigen Impuls,

Vorläufig marschirten die beiden Parteien getrennt und der Kampf
zwischen „Lassallcanern" und „Eisenachern" nahm, wie unter solchen
Umständen kaum zu vermeiden, oft einen erbitterten und persönlichen Charakter an.
Die öffentlichen und nichtöffentlichen Versuche, die beiden Parteien zu versöhnen,

Briefe über den Parteitag.

beschrieben von Kommerzienrat!) Wilhelm Lchultze an seine Lotte.

Halle a. S., 12. 10. 90.

Liebe Lotte! Ich schreibe Dir schon heute, um Dir anzuzeigen, daß
ich vorläufig hier bleiben werde. Das kam so. Als ich gestern Nacht hier
aus dem Coupe stieg, wimmelte der Bahnhof von festlich gekleideten Per-
sonen und auf allen Seiten hörte ich das Wort „Hosjäger". Sapperlot!
dachte ich, gewiß findet hier eine Hofjagd statt, die mußt du dir mit ansehcn.
Du weißt ja, welch' ein passionirter Nimrod ich bin. In dieser Meinung
wurde ich bestärkt, als ich Jemand sagen hörte: „Wissen Sie schon, daß die
Wachen verdoppelt sind?" Ich glaubte nämlich, zu Ehren und zum Schutz
der hier anwesenden fürstlichen Personen und ihrer hohen Geleitschaft. Ich
bat nun einen jungen Mann, der eine Schleife im Knopfloch hatte, um
nähere Mittheilnng über die Hofjägd und die fürstlichen Gäste. Aber der
brach in ein helles Gelächter-aus. „Ei ja, meinte er, die Wachen sind ver-
doppelt zu Ehren und zum Schutz der Sozialdemokraten, welche hier ihren
Parteitag abhalten. Und der Hofjäger, das is Sie nämlich das Versamm-
lungslokal, wo die Sozialdemokraten große Jagd abhaltcn auf einen Kapital-
bock, hecßt das auf den Bock des Kapitals oder Kapitalismus, wie man
mccrschtendcels zu sagen pflegen dhud." Donner und Doria! Ich hätte den
Kerl erwürgen mögen. Wer hätte das voriges Jahr gedacht, wo unser großer
Reichskanzler noch lebte, wollt' sagen noch am Ruder war und sein Tyras,
wollt' sagen sein Sozialistengesetz, noch so flott die Zähne fletschte und die
verflixten Sozialdemokraten in die Waden biß! — Während ich nun ins
Hotel fuhr, überlegte ich mir die Sache ruhiger und nahm mir vor, den
Rummel mit anzusehen. Du weißt ja, ich bin ein Freund vom Gruseligen
und auf diesem Parteitag, da werden Brandreden gehalten werden, daß es
einem gebildeten Christenmenschen bis in die äußersten Haarspitzen gruseln
wird. Was ich in dieser Nacht für Träume hatte! Ich sah mich von
wüsten, wilden Gesellen umringt und mit Knüppeln bedroht. Sie verlangten,
ich sollte mit ihnen theilen. Ich aber verthcidigte meine Geldkatze wie eine

Löwin ihr Junges, Die Kerls wurden aber immer wüthiger und schon
hatte ein langer Bengel die Geldkatze mit eisernem Griff gefaßt, als mir
Gott Mammon einen rettenden Gedanken eingab. Ich hatte nämlich unter-
wegs die Richter'sche „Freisinnige Zeitung" gekauft, worin ansgcrechnct ist,
daß beim allgemeinen Theilen für jeden nur ein Nasenwasser hcrauskommt,
nur 842 Mark. Dieses Blatt zog ich im gefährlichen Augenblick aus der
Tasche und verthcidigte mich damit gegen die Angreifer wie mit einem
papiernen Schild. Und ich war gerettet, d. h. die Geldkatze; denn sämmt-
liche Angreifer schlugen ein so höllisches Gelächter auf, daß ich Zeit hatte,
das Weite zu suchen. Im Davonlaufen hörte ich noch, wie einer schrie:
„Was meint Ihr, wenn man den Verstand in den Richter'schen Artikeln
unter allen Deutschfreisinnigen vertheilen würde, wie viel Verstand auf jeden
Einzelnen kommt?" Keine Bohne! Kein Fingcrhut voll! erschallte es von
allen Seiten unter dröhnenden Lachsalven. Was soll ich Dir all' das tolle
Zeug schildern, was mir in dieser Nacht durch das Hirn rumorte? Ich
erwachte mit schwerem Kopf, nahm mir aber erst recht vor, den Spektakel
mit anzusehen. Der Hotelbesitzer versprach, mir eine Karte zur Gallcrie zu
verschaffen; ich war erstaunt, ihn so gelassen von der Sache reden zu hören,
und denke nur: als ich fragte, ob die Hallenser Kapitalisten nicht Vorsorge
getroffen hätten für ihre Werthsachen, sagte er spöttisch: „Halten Sie uns
Hallenser für Narren?"

Zwischen 6 und 7 Uhr heute Abend betrat ich die Galleric des Hof-
jägersaals. Ich hatte nur ein paar Mark in der Tasche, alles Gold ließ
ich im Hotcl„ denn man kann nicht vorsichtig genug sein. Einen guten
Revolver hatte ich ebenfalls bei mir. Zu gruseln gab's nun heute Abend
leider nichts. Der hell erleuchtete Saal machte einen beinahe feierlichen Ein-
druck. Nicht einmal die rothe Farbe könnte gruseln machen, denn sie war
durch grüne Guirlanden abgetönt, lieber der Tribüne sah man die zwei
sozialdemokratischen Götter Marx und Lassalle und darüber einen Frauen-
zimmerkopf. Ich meinte zuerst, cs sei die Louise Michel, aber ein Gallerie-
nachbar erklärte mir, daß das die Göttin der Freiheit wäre. Außer besagten
Göttern erblickte mau die Heiligen: Sankt Kräcker, Sankt Kayser, Sankt
Hasenclcver u. s. w. und auf Wappenschildern einen sozialdemokratischen
 
Annotationen