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die Expatriirung beantragte, erschienen doch 60 Dclegirtc in Brüggen
bei St. Gallen, wohin man auf den Oktober 1887 den Kongreß berufen
hatte. Der Kongreß, dessen Verhandlungen von hohem Interesse waren,
sprach sich entschieden gegen den Anarchismus und dessen Gewaltpolitik aus;
er verwarf ebenso entschieden die Bismarck'sche Zoll- und Steuerpolitik und
empfahl eine parlamentarische Thätigkcit hauptsächlich nach der agitatorischen
und kritischen Seite; die positive gesetzgeberische Thätigkcit sollte nur in der
Voraussetzung gepflegt werden, daß dadurch keine Illusionen geweckt wurden.
Das Verhalten der Freisinnigen bei den Stichwahlen vcranlaßtc den Be-
schluß, den Parteigenossen zu empfehlen, bei Stichwahlen zwischen zwei
Gegnern sich der Wahl zu enthalten. Auch ward ein internationaler Ar-
beiterkongreß beschlossen, der bekanntlich im Jahre 1889 zu Paris am
hundertsten Jahrestage des Bastillenstnrmcs eröffnet worden ist und einen
glänzenden Verlauf genommen hat. Die Sozialdemokratie aller Kulturländer
hatte in dieser bedeutenden Zusammenkunft, die eine der wichtigsten Etappen
in der Entwicklung der Arbeiterbewegung bildet, ihre Vertreter gesandt und der
Kongreß hatte bekräftigt, daß die Sozialdemokratie es aufrichtig meint mit der
Brüderlichkeit und Versöhnlichkeit, nicht nur unter den eigenen Volksgenossen,

sondern unter den Völkern überhaupt. Eine großartigere Demonstration für
den Völkcrfricdcn und die Völkerverbrüderung hat es nie gegeben.

Inzwischen ist das „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen
'der Sozialdemokratie", wie man es getauft hatte, gefallen; Bismarck und
sein Puttkamcr regieren nicht mehr. Der Kongreß zu Halle ist der erste,
der ohne den Druck des Sozialistengesetzes seit 1877 wieder in Deutschland
stattfindet; er ist der großartigste von allen. Stolz kann die Sozialdemokratie
ans ihre Laufbahn zurückblicken, die reich ist an Gefahren und Leiden, reich
an Opfern und Verlusten, aber auch reich an Erfolgen und Triumphen.
Der Chor der Verleumder kann Niemanden schrecken, der von der guten
Sache überzeugt und von dem Gedanken beseelt ist, daß die höchste und
edelste Pflicht unserer Zeit die Erlösung des armen Mannes ans seinen
knltnrwidrigcn ökonomischen und politischen Fesseln fordert

Der Kongreß zu Halle eröffnet eine neue Aera für die Sozialdemokratie.
Sic tritt in dieselbe ein, frohen und frischen Muthes, mit einer Zuversicht,
die Nichts erschüttern kann.

Mögen ihre Feinde sich die Köpfe weiter zerbrechen, wie sie diese mächtige
Bewegung aufhalten wollen! Sie wälzen den Stein des Sisyphns.

Das Kongreßlokal in Halle a. S.

Dir Eröffnung des Kongresses.

Im sonnigen Herbst des Jahres 1890, in Halle, der freund-
lichen Musenstadt am Saalestrandc, hielt die deutsche Sozial-
demokratie nach Ablauf, des Sozialistengesetzes ihren ersten Kongreß
ab. Sic bezog damit das nach langjährigen Kämpfen ruhmreich
zurückeroberte Terrain des Vaterlandes und Pflanzte im Herzen
von Deutschland ihr Banner auf, das Banner der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.

Vierhundertnnddreizehn Dclegirtc aus zweihnndertnnddreißig Wahlkreisen waren
erschienen — ein Arbeiterparlament, wie Deutschland ein solches noch nie gesehen hat.

Im Saale des „Hosjäger" war am Sonntag, den 12. Oktober, die Eröffnungs-
versammlung. Den ernsten Schmuck des Lokales bildeten die Porträts der während
des Kampfes gegen die Kapitalmacht verstorbenen Sozialdemokraten, die Bilder von Kayser,
Hasenclevcr, Bracke, Gcib und Anderen, welche sonst niemals fehlten, wo Sozialdemokraten
sich vereinigten. War es ihnen nicht vergönnt, diesen Tag des Sieges zu erleben, so waltete
der Geist der großen Sache, der sie beseelte, doch über der Versammlung, und mancher der
Anwesenden sandte dem stummen Antlitz der geschiedenen Freunde einen warmen Blick zu,
einen Gruß des unvergeßlichen Angedenkens. — Neben der Tribüne rechts und links sah
mm»»,, man die lange verpönten und verfolgten rothen Fahnen, über der Tribüne den Wahrspruch
des großen Denkers Karl Marx: „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch".

Saal und Gallerten waren überfüllt von Delegirtcn und Gästen. Da trat Wilhelm
Liebknecht, der Nestor der sozialdemokratischen Parlamentarier und Journalisten, ans die
Tribüne, um den Kongreß zu eröffnen. Viele der Anwesenden, die aus entfernten Gauen
des Deutschen Reiches herbcigekommen waren, hatten Liebknecht seit langen Jahren nicht
gesehen. Das Alter hat ihm nichts anzuhaben vermocht, ungebeugt stand er da und der
eherne Klang seines Wortes war noch derselbe, den wir oft im Kampfe vernommen haben.

Liebknecht gedachte in kurzen Worten der heißen Kämpfe in den zwölf Jahren des
Sozialistengesetzes, er gedachte der Opfer, die er gekostet, der Todten, die von den Wänden
auf die Versammlung nicderschauten. Aber er betonte auch, daß der Kampf unsere
Reihen nicht gelichtet hat, daß für jeden Gefallenen tausend neue Streiter erstanden sind.
 
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