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Die Anwesenden folgten dem Redner mit gespannter Aufmerksamkeit.
Als von den Opfern die Rede war, welche die Genossen durch Gefängniß
und sonstige Leiden zum Zwecke der Verbreitung der verbotenen Schriften
gebracht haben, erhoben sich die Anwesenden auf Bcbcl's Aufforderung von
den Sitzen, um die Verfolgten und Verurteilten zu ehren. Dem Schluß
des Vortrages folgte nngetheilter Beifall.
Die Abrechnung der Partei ist durch drei Revisoren geprüft worden,
welche auch, wie einer der Revisoren, Adolf Geck von Offenburg, mit-
theilte, die Kasse nach der Schweiz gebracht und das Geld sicher niedergclegt
haben. Geck beantragte im Namen der Revisoren Erthcilung der Decharge,
welche von dem Kongreß einstimmig ausgesprochen wurde.
In der ziemlich langen Debatte über das Referat Bcbcl's sprach sich
der größte Theil der Redner anerkennend und zustimmend über die Partei-
leitung aus. Von der bekannten oppositionellen Seite wurden nur zwei
sachliche Einwendungen erhoben: die ablehnende oder teilweise unsichere
Haltung der Parteileitung zum ersten Mai und die Abweichung vom Beschluß
in St. Gallen, nach welchem bei Stichwahlen zwischen gegnerischen Parteien
die Sozialdemokratie Stimmenthaltung beobachten sollte.
In Bezug auf letzteren Punkt wurde von Singer, Bebel und anderen
Rednern betont: man konnte den Unterschied in den Verhältnissen, der
angesichts der letzten Wahl eiugetreten ist, 1887 noch nicht voraussehen, und
angesichts des cingetretenen UmschwuMs konnte man es nicht verantworten,
dazu beizutragen, daß eine Majorität für das Sozialistengesetz zu Stande
komme, dessen Fortdauer fraglich geworden war. Man mußte daher bei
Stichwahlen unter Gegnern denjenigen unterstützen, der das bindende Ver-
sprechen gab, gegen das Sozialistengesetz zu stimmen. Bezüglich des ersten
Mai kam die ungünstige ökonomische Geschäftslage in Betracht, welche im
letzten Frühjahr eiugetreten war und welche der Bourgeoisie einen Anlaß
zu Maßregelungen sozialistischer Arbeiter sogar willkommen erscheinen ließ.
Die ungünstige ökonomische Situation hat die Niederlage in Hamburg und
anderen Städten, wo man für allgemeine Arbeitsruhe eiugetreten war, her-
beigeführt und die Niederlage wäre in kleineren Orten eine noch viel
eklatantere und vcrhängnißvollere geworden, wenn die Reichstagsfraktion
nicht jene abmahncnde Erklärung erlassen hätte und wenn von der durch
den Pariser Beschluß gar nicht verlangten allgemeinen Arbcitsrnhc nicht der
größte Theil der Parteigenossen abgesehen hätte. Für die Zukunft empfehle
es sich, den ersten Sonntag im Mai zu Demonstrationsfcstlichkeitcn für
den Achtstundentag zu benützen.
Der Kongreß sprach mit einer an Einstimmigkeit grenzenden Majorität
seine Billigung über die Haltung der Fraktion zur Frage des ersten Mai aus.
Der Bericht der Keichskagsfraktion.
In der Kongreßsitzung am 14. Oktober gab der Reichstagsabgeordnetc
Singer ein übersichtliches Bild der sozialdemokratischen Rcichstagsthütig-
kcit in den letzten Jahren. Da wohl alle unsere Leser den Vorgängen im
Reichstage mit Aufmerksamkeit gefolgt sind, bedarf cs an dieser Stelle keiner
genaueren Wiedergabe dieses Referats. Hervorzuheben sei nur, daß Singer
betonte, wie die Sozialdemokraten im Reichstage es waren, welche anläßlich
der Expatriirungsvorlage das schandvolle Spitzel- und Provokateurthum im
In- und Auslande enthüllten und dadurch von Deutschland das ungeheure
Unheil abwandten, daß ein Gesetz cingeführt würde, welches Deutsche ihrer
Gesinnung halber aus dem Baterlande vertreiben sollte. Die Taktik der
parlamentarischen Thätigkcit im Reichstage faßte der Referent dahin zusammen,
daß man die agitatorische Wirkung des Parlamentarismus nicht aus dem
Auge lasse, dabei aber auch für die Arbeiterklasse das Beste zu erreichen
suche. Die parlamentarische Thätigkcit ist heute eine der schneidigsten Waffen der
Sozialdemokratie. Ihr ist es zu danken, daß die Gesetzgebung sich — wenn
auch vorläufig noch in ungenügender Weise — mit der Sozialreform be-
schäftigt. Die Reichstagsfraktion hat treu im Dienste des Proletariats
gearbeitet. Ihre nächsten Aufgaben beruhen darin, an den offiziellen Vor-
schlägen über den Arbeiterschutz die Haltlosigkeit der gesummten offiziellen
Sozialreform darzulegen. Es wird u A die Strafbarkeit des Antastcns
von Arbcitcrkoalitionen im Reichstage beantragt werden. Zur Motivirung
des praktischen Borgehens nach dieser Richtung betonte der Redner: Läßt
sich auch selbst durch den besten Arbeiterschutz das kapitalistische Produktions-
system nicht' beseitigen, so kann durch denselben doch die Degenerirung der
Arbeiterschaft verhütet werden. In demselben Maße, wie die Arbeiterver-
hältnisse gebessert werden, wird unsere Armee wachsen.
Das Referat des Genossen Singer wurde nnt allseitigem Beifall aus-
genommen.
In der sich anschließenden Debatte war ein hervortrctendes Moment
die energische Abweisung jeder Gewaltpolitik, was namentlich von Liebknecht
in scharfen Worten betont wurde. Der ganze Kampf, den wir führen, sagte
Liebknecht, ist ein Kampf um die indifferente Masse; wenn wir sie haben,
dann haben wir gesiegt; wer durch anarchistische Phrasen die indifferente
Masse gegen uns eiunünmt, leistet unfern Feinden einen wichtigen Dienst.
Diese und eine andere Aeußerung Liebknechts, in welcher er erklärte,
daß Jeder, der den Sozialdenwkraten Gewaltmittel empfehle, ins Narren-
haus gehöre, fanden die lauteste Zustimmung in den Reihen der Delegirten.
Die Opposition Werners, welche bei dieser Gelegenheit laut wurde, blieb
gänzlich ohne Eindruck. Als Werner verlangte, die Reichstagsfraktion solle
an Stelle ihrer bisherigen praktischen Thätigkcit eine mehr agitatorische setzen,
wies ihn ein Veteran der Partei, der bewährte Genosse G. Löwcnstein-
Nürnbcrg, zurecht, indem er konstatirte: Jede agitatorische Thätigkcit
der Partei ist zugleich eine praktische. Der Parlamentarismus kann
nur Leute korrumpiren, die nicht gesinnungstrcn sind. (Großer Beifall.)
Zum Schluß der Diskussion wurde eine Resolution, welche ausspricht,
daß die Rcichstagsabgeordneten ihre Verpflichtungen völlig erfüllten und ganz
im Sinne der Partei handelten und in Zukunft in derselben Weise handeln
sollen, einstimmig angenommen.
Durch diese Einstimmigkeit gerade in dem Punkte, uru welchen sich alle
Spaltungsgerüchte drehten, ist die Legende von einem Zwiespalt in der
Sozialdemokratie glänzend abgcthan.
Dir Organisation der Parker.
Zwölf Jahre lang hat die sozialdemokratische Partei absolut keine zu-
sammenhängende Organisation gehabt. Lediglich die Begeisterung für die
gute Sache, die Opferwilligkeit für die gemeinsamen Ziele waren cs, welche
ein planmäßiges Zusammenwirken möglich machten und die finanziellen Mittel
dafür aufbrachten. Die Welt hielt ein solch ideales und dabei doch so
festes Band für undenkbar und die Suche der Staatsanwälte, Polizeibeamten
und freiwilligen Spitzel nach dem Gehcimbuud, der nicht existirte, bildete ein
eigenes tragikomisches Kapitel in der Geschichte der großen zwölfjährigen
Sozialistenjagd. Nun gab es wieder die Möglichkeit einer Organisation
und cs mußte eine solche geschaffen werden. Das war keine leichte Sache,
denn aus den Kinderschuhen ehemaliger Organisationspläne, wie sic der
„Allgemeine deutsche Arbeiterverein" besaß und wie sie später noch der ver-
einigten sozialistischen Arbeiterpartei angepaßt wurden, ist die Partei heute
hinausgewachsen. Die Partei hat sich hundertfach verstärkt und erstreckt sich
über das ganze Reich bis nach dem Elsaß und in die polnischen Distrikte
hinein, während man früher die Zahl der Mitglieder und die für die Organi-
sation in Frage kommenden Gebiete leicht übersehen konnte. Es galt außer-
dem auch, die Organisation möglichst unangreifbar gegenüber den verschiedenen
deutschen Vereins- und Bersammlungsgesetzen zu niachen — eine Anforderung,
welcher bisher noch keine sozialdemokratische Organisation zu genügen vermochte.
Die bisherige Parteileitung hat sich der Mühe unterzogen, für die vor-
liegende schwierige Aufgabe die Lösung zu versuchen. Sie veröffentlichte lange
vor dem Kongreß einen Organisatiouscntwurf, um ihn der allgemeinen
Diskussion zu unterbreiten. Die Diskussion fand auch in ausgiebigem Maße
statt und es wurden gegen das Vorgeschlagene mancherlei Bedenken, theil-
weisc in mehr oder weniger schroffer Form, geäußert.
Man kann cs daher dem Referenten über den Entwurf, dem Reichstags-
abgeordneten I. Auer, nicht verdenken, wenn er in seinem Referat gleich-
falls einen polemischen Ton anfchlug und sich gegen die Angriffe, welche die
Verfasser des Entwurfs erfahren hatten, wehrte. Man muß ihm zugestehen,
daß er dabei elegant und geistreich seinen Standpunkt verfocht. Als lang-
jähriger Parteiführer und Organisator konnte er mit gründlicher Sachkeuntniß
alle einschlägigen Verhältnisse klarlegen und beantragte schließlich, die Arbeit
der Spezialberathung einer Kommission von fünfundzwanzig Personen zu
übertragen, was auch fast einstimmig angenommen wurde.
Das Resultat der Kommissionsberathung wurde in der Sitzung am
Freitag, den 17. Oktober, Nachmittags, verkündigt, nachdem die Kommission
einstimmig den in vielen Punkten ergänzten und abgeänderten Entwurf an-
genommen hatte.
Die Annahme im Plenum erfolgte eu liloc.
Nach dieser Organisation besitzt die Parteileitung einen Vorstand und
ein täglich erscheinendes offizielles Organ in Berlin, Vertrauensmänner in
den einzelnen Orten und als höchste Instanz den Parteitag. Mitglied der
Partei kann Jeder werden, der sich zu den Grundsätzen des Parteiprogramms
bekennt und die Partei nach Kräften materiell unterstützt.
Mit der Annahme dieser Organisation war ein bedeutsames Stück der
Arbeit dieses Parteitages in erfreulicher Weise zu Stande gebracht.
Als Vorsitzende des Parteivorstandes wurden gewählt: P. Singer
und Gcrisch, als Schriftführer: I Auer und R. Fischer, als Kassircr:
August Bebel. Hierzu kamen noch sieben Revisoren: Dobler-Hamburg,
Herbert -Stettin, Ewald -Brandenburg, Kaden -Dresden, I a c o b h -Berlin,
G. Schulz-Berlin, B ehrend -Frankfurt a. O. Als Chefredakteur des
Parteiorgans wurde Wilhelm Liebknecht bestätigt und zugleich wurde er
dem Parteivorstand als gleichberechtigt bcigeordnet.
Das Parteiprogramm.
„Die Sozialdemokratie braucht keinen papierucn Papst" — so begann
Liebknecht seine große Rede über das Parteiprogramm in der Sitzung des
Parteitages vom 15. Oktober, und er hatte Recht, denn auch in den ver-
schiedenen sozialdemokratischen Programmen stellt sich die fortschreitende Ent-
wicklung des wissenschaftlichen Sozialismus dar. Die Sozialdemokratie hat
sich niemals der Buchstabengläübigkeit hingegeben und darum bleibt ihr auch
das Recht Vorbehalten, ihr Programm jederzeit einer Revision zu unterziehen.
Das bestehende Programm, das im Jahre 1875 zu Gotha auf dem Bcreinigungs-
kongreß geschaffen wurde, war das Produkt eines Kompromisses zwischen
Eisenachern und Lassalleanern; cs wurden damals Programmpunktc aus-
genommen, die heute veraltet erscheinen, nur dainit etwas Gemeinsames zu
Stande gebracht werden konnte.
Darum vernahm man schoit bald nach dem Einführen des Sozialisten-
gesetzes Stimmen, die sich entschieden für eine Programmänderung ans-
sprachen, und bis heute hat sich diese Anschauung schier allseitig geltend
gemacht. Es trat Niemand auf, der die Revisionsbedürftigkeit des Programms
bestritt. Nur wies man einzelne Vorschläge zurück, die überflüssig erschienen,
weil sie gerade das abschaffcu wollten, lvas sich am trefflichsten bewährt
hatte. Dies ivar namentlich der Fall mit dem Punkte des Programms, die
Die Anwesenden folgten dem Redner mit gespannter Aufmerksamkeit.
Als von den Opfern die Rede war, welche die Genossen durch Gefängniß
und sonstige Leiden zum Zwecke der Verbreitung der verbotenen Schriften
gebracht haben, erhoben sich die Anwesenden auf Bcbcl's Aufforderung von
den Sitzen, um die Verfolgten und Verurteilten zu ehren. Dem Schluß
des Vortrages folgte nngetheilter Beifall.
Die Abrechnung der Partei ist durch drei Revisoren geprüft worden,
welche auch, wie einer der Revisoren, Adolf Geck von Offenburg, mit-
theilte, die Kasse nach der Schweiz gebracht und das Geld sicher niedergclegt
haben. Geck beantragte im Namen der Revisoren Erthcilung der Decharge,
welche von dem Kongreß einstimmig ausgesprochen wurde.
In der ziemlich langen Debatte über das Referat Bcbcl's sprach sich
der größte Theil der Redner anerkennend und zustimmend über die Partei-
leitung aus. Von der bekannten oppositionellen Seite wurden nur zwei
sachliche Einwendungen erhoben: die ablehnende oder teilweise unsichere
Haltung der Parteileitung zum ersten Mai und die Abweichung vom Beschluß
in St. Gallen, nach welchem bei Stichwahlen zwischen gegnerischen Parteien
die Sozialdemokratie Stimmenthaltung beobachten sollte.
In Bezug auf letzteren Punkt wurde von Singer, Bebel und anderen
Rednern betont: man konnte den Unterschied in den Verhältnissen, der
angesichts der letzten Wahl eiugetreten ist, 1887 noch nicht voraussehen, und
angesichts des cingetretenen UmschwuMs konnte man es nicht verantworten,
dazu beizutragen, daß eine Majorität für das Sozialistengesetz zu Stande
komme, dessen Fortdauer fraglich geworden war. Man mußte daher bei
Stichwahlen unter Gegnern denjenigen unterstützen, der das bindende Ver-
sprechen gab, gegen das Sozialistengesetz zu stimmen. Bezüglich des ersten
Mai kam die ungünstige ökonomische Geschäftslage in Betracht, welche im
letzten Frühjahr eiugetreten war und welche der Bourgeoisie einen Anlaß
zu Maßregelungen sozialistischer Arbeiter sogar willkommen erscheinen ließ.
Die ungünstige ökonomische Situation hat die Niederlage in Hamburg und
anderen Städten, wo man für allgemeine Arbeitsruhe eiugetreten war, her-
beigeführt und die Niederlage wäre in kleineren Orten eine noch viel
eklatantere und vcrhängnißvollere geworden, wenn die Reichstagsfraktion
nicht jene abmahncnde Erklärung erlassen hätte und wenn von der durch
den Pariser Beschluß gar nicht verlangten allgemeinen Arbcitsrnhc nicht der
größte Theil der Parteigenossen abgesehen hätte. Für die Zukunft empfehle
es sich, den ersten Sonntag im Mai zu Demonstrationsfcstlichkeitcn für
den Achtstundentag zu benützen.
Der Kongreß sprach mit einer an Einstimmigkeit grenzenden Majorität
seine Billigung über die Haltung der Fraktion zur Frage des ersten Mai aus.
Der Bericht der Keichskagsfraktion.
In der Kongreßsitzung am 14. Oktober gab der Reichstagsabgeordnetc
Singer ein übersichtliches Bild der sozialdemokratischen Rcichstagsthütig-
kcit in den letzten Jahren. Da wohl alle unsere Leser den Vorgängen im
Reichstage mit Aufmerksamkeit gefolgt sind, bedarf cs an dieser Stelle keiner
genaueren Wiedergabe dieses Referats. Hervorzuheben sei nur, daß Singer
betonte, wie die Sozialdemokraten im Reichstage es waren, welche anläßlich
der Expatriirungsvorlage das schandvolle Spitzel- und Provokateurthum im
In- und Auslande enthüllten und dadurch von Deutschland das ungeheure
Unheil abwandten, daß ein Gesetz cingeführt würde, welches Deutsche ihrer
Gesinnung halber aus dem Baterlande vertreiben sollte. Die Taktik der
parlamentarischen Thätigkcit im Reichstage faßte der Referent dahin zusammen,
daß man die agitatorische Wirkung des Parlamentarismus nicht aus dem
Auge lasse, dabei aber auch für die Arbeiterklasse das Beste zu erreichen
suche. Die parlamentarische Thätigkcit ist heute eine der schneidigsten Waffen der
Sozialdemokratie. Ihr ist es zu danken, daß die Gesetzgebung sich — wenn
auch vorläufig noch in ungenügender Weise — mit der Sozialreform be-
schäftigt. Die Reichstagsfraktion hat treu im Dienste des Proletariats
gearbeitet. Ihre nächsten Aufgaben beruhen darin, an den offiziellen Vor-
schlägen über den Arbeiterschutz die Haltlosigkeit der gesummten offiziellen
Sozialreform darzulegen. Es wird u A die Strafbarkeit des Antastcns
von Arbcitcrkoalitionen im Reichstage beantragt werden. Zur Motivirung
des praktischen Borgehens nach dieser Richtung betonte der Redner: Läßt
sich auch selbst durch den besten Arbeiterschutz das kapitalistische Produktions-
system nicht' beseitigen, so kann durch denselben doch die Degenerirung der
Arbeiterschaft verhütet werden. In demselben Maße, wie die Arbeiterver-
hältnisse gebessert werden, wird unsere Armee wachsen.
Das Referat des Genossen Singer wurde nnt allseitigem Beifall aus-
genommen.
In der sich anschließenden Debatte war ein hervortrctendes Moment
die energische Abweisung jeder Gewaltpolitik, was namentlich von Liebknecht
in scharfen Worten betont wurde. Der ganze Kampf, den wir führen, sagte
Liebknecht, ist ein Kampf um die indifferente Masse; wenn wir sie haben,
dann haben wir gesiegt; wer durch anarchistische Phrasen die indifferente
Masse gegen uns eiunünmt, leistet unfern Feinden einen wichtigen Dienst.
Diese und eine andere Aeußerung Liebknechts, in welcher er erklärte,
daß Jeder, der den Sozialdenwkraten Gewaltmittel empfehle, ins Narren-
haus gehöre, fanden die lauteste Zustimmung in den Reihen der Delegirten.
Die Opposition Werners, welche bei dieser Gelegenheit laut wurde, blieb
gänzlich ohne Eindruck. Als Werner verlangte, die Reichstagsfraktion solle
an Stelle ihrer bisherigen praktischen Thätigkcit eine mehr agitatorische setzen,
wies ihn ein Veteran der Partei, der bewährte Genosse G. Löwcnstein-
Nürnbcrg, zurecht, indem er konstatirte: Jede agitatorische Thätigkcit
der Partei ist zugleich eine praktische. Der Parlamentarismus kann
nur Leute korrumpiren, die nicht gesinnungstrcn sind. (Großer Beifall.)
Zum Schluß der Diskussion wurde eine Resolution, welche ausspricht,
daß die Rcichstagsabgeordneten ihre Verpflichtungen völlig erfüllten und ganz
im Sinne der Partei handelten und in Zukunft in derselben Weise handeln
sollen, einstimmig angenommen.
Durch diese Einstimmigkeit gerade in dem Punkte, uru welchen sich alle
Spaltungsgerüchte drehten, ist die Legende von einem Zwiespalt in der
Sozialdemokratie glänzend abgcthan.
Dir Organisation der Parker.
Zwölf Jahre lang hat die sozialdemokratische Partei absolut keine zu-
sammenhängende Organisation gehabt. Lediglich die Begeisterung für die
gute Sache, die Opferwilligkeit für die gemeinsamen Ziele waren cs, welche
ein planmäßiges Zusammenwirken möglich machten und die finanziellen Mittel
dafür aufbrachten. Die Welt hielt ein solch ideales und dabei doch so
festes Band für undenkbar und die Suche der Staatsanwälte, Polizeibeamten
und freiwilligen Spitzel nach dem Gehcimbuud, der nicht existirte, bildete ein
eigenes tragikomisches Kapitel in der Geschichte der großen zwölfjährigen
Sozialistenjagd. Nun gab es wieder die Möglichkeit einer Organisation
und cs mußte eine solche geschaffen werden. Das war keine leichte Sache,
denn aus den Kinderschuhen ehemaliger Organisationspläne, wie sic der
„Allgemeine deutsche Arbeiterverein" besaß und wie sie später noch der ver-
einigten sozialistischen Arbeiterpartei angepaßt wurden, ist die Partei heute
hinausgewachsen. Die Partei hat sich hundertfach verstärkt und erstreckt sich
über das ganze Reich bis nach dem Elsaß und in die polnischen Distrikte
hinein, während man früher die Zahl der Mitglieder und die für die Organi-
sation in Frage kommenden Gebiete leicht übersehen konnte. Es galt außer-
dem auch, die Organisation möglichst unangreifbar gegenüber den verschiedenen
deutschen Vereins- und Bersammlungsgesetzen zu niachen — eine Anforderung,
welcher bisher noch keine sozialdemokratische Organisation zu genügen vermochte.
Die bisherige Parteileitung hat sich der Mühe unterzogen, für die vor-
liegende schwierige Aufgabe die Lösung zu versuchen. Sie veröffentlichte lange
vor dem Kongreß einen Organisatiouscntwurf, um ihn der allgemeinen
Diskussion zu unterbreiten. Die Diskussion fand auch in ausgiebigem Maße
statt und es wurden gegen das Vorgeschlagene mancherlei Bedenken, theil-
weisc in mehr oder weniger schroffer Form, geäußert.
Man kann cs daher dem Referenten über den Entwurf, dem Reichstags-
abgeordneten I. Auer, nicht verdenken, wenn er in seinem Referat gleich-
falls einen polemischen Ton anfchlug und sich gegen die Angriffe, welche die
Verfasser des Entwurfs erfahren hatten, wehrte. Man muß ihm zugestehen,
daß er dabei elegant und geistreich seinen Standpunkt verfocht. Als lang-
jähriger Parteiführer und Organisator konnte er mit gründlicher Sachkeuntniß
alle einschlägigen Verhältnisse klarlegen und beantragte schließlich, die Arbeit
der Spezialberathung einer Kommission von fünfundzwanzig Personen zu
übertragen, was auch fast einstimmig angenommen wurde.
Das Resultat der Kommissionsberathung wurde in der Sitzung am
Freitag, den 17. Oktober, Nachmittags, verkündigt, nachdem die Kommission
einstimmig den in vielen Punkten ergänzten und abgeänderten Entwurf an-
genommen hatte.
Die Annahme im Plenum erfolgte eu liloc.
Nach dieser Organisation besitzt die Parteileitung einen Vorstand und
ein täglich erscheinendes offizielles Organ in Berlin, Vertrauensmänner in
den einzelnen Orten und als höchste Instanz den Parteitag. Mitglied der
Partei kann Jeder werden, der sich zu den Grundsätzen des Parteiprogramms
bekennt und die Partei nach Kräften materiell unterstützt.
Mit der Annahme dieser Organisation war ein bedeutsames Stück der
Arbeit dieses Parteitages in erfreulicher Weise zu Stande gebracht.
Als Vorsitzende des Parteivorstandes wurden gewählt: P. Singer
und Gcrisch, als Schriftführer: I Auer und R. Fischer, als Kassircr:
August Bebel. Hierzu kamen noch sieben Revisoren: Dobler-Hamburg,
Herbert -Stettin, Ewald -Brandenburg, Kaden -Dresden, I a c o b h -Berlin,
G. Schulz-Berlin, B ehrend -Frankfurt a. O. Als Chefredakteur des
Parteiorgans wurde Wilhelm Liebknecht bestätigt und zugleich wurde er
dem Parteivorstand als gleichberechtigt bcigeordnet.
Das Parteiprogramm.
„Die Sozialdemokratie braucht keinen papierucn Papst" — so begann
Liebknecht seine große Rede über das Parteiprogramm in der Sitzung des
Parteitages vom 15. Oktober, und er hatte Recht, denn auch in den ver-
schiedenen sozialdemokratischen Programmen stellt sich die fortschreitende Ent-
wicklung des wissenschaftlichen Sozialismus dar. Die Sozialdemokratie hat
sich niemals der Buchstabengläübigkeit hingegeben und darum bleibt ihr auch
das Recht Vorbehalten, ihr Programm jederzeit einer Revision zu unterziehen.
Das bestehende Programm, das im Jahre 1875 zu Gotha auf dem Bcreinigungs-
kongreß geschaffen wurde, war das Produkt eines Kompromisses zwischen
Eisenachern und Lassalleanern; cs wurden damals Programmpunktc aus-
genommen, die heute veraltet erscheinen, nur dainit etwas Gemeinsames zu
Stande gebracht werden konnte.
Darum vernahm man schoit bald nach dem Einführen des Sozialisten-
gesetzes Stimmen, die sich entschieden für eine Programmänderung ans-
sprachen, und bis heute hat sich diese Anschauung schier allseitig geltend
gemacht. Es trat Niemand auf, der die Revisionsbedürftigkeit des Programms
bestritt. Nur wies man einzelne Vorschläge zurück, die überflüssig erschienen,
weil sie gerade das abschaffcu wollten, lvas sich am trefflichsten bewährt
hatte. Dies ivar namentlich der Fall mit dem Punkte des Programms, die