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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 18.1925

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Groos, Karl: Flauberts Novelle "Un coeur simple"
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https://doi.org/10.11588/diglit.3820#0048

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FLAUBERTS NOVELLE „UN COEUR SIMPLE". 45

ihrer Herrin fürchtet sie, das Haus verlassen zu müssen, und doch ist
ihre Mansarde »si commode pour le pauvre Loulou«. Angstvoll betet
sie zu dem Heiligen Geist, aber sie nimmt dabei »l'habitude idolätre«
an, diese Gebete kniend an den Papagei zu richten. Damit hat sich
Schritt für Schritt die Identifizierung vollendet. Wenn dann zuweilen
ein hereinfallender Sonnenstrahl das Glasauge des Vogels aufblitzen
läßt, verfällt sie in einen Zustand der Ekstase.

Wir haben nur noch hinzuzufügen, daß Loulou mit der Erlaubnis
des gütigen Geistlichen beim Fronleichnamsfest einen Platz auf dem
Altar erhält, der draußen vor dem Fenster der Sterbenden aufgerichtet
ist. Den Weihrauch einatmend, der in das Zimmer dringt, stirbt Felicite,
und bei ihrem letzten Atemzuge glaubt sie, einen »perroquet gigan-
tesque« über sich schweben zu sehen.

Mit der Schilderung dieser kunstvollen Entwicklung des traurig
Grotesken ist unsere Aufgabe zu Ende geführt. Der methodische Zweck
der Studie bestand in dem Versuche, den Nutzen unserer Dreigliede-
rung an einem bestimmten Beispiel zu erproben. Für den ästhetischen
Genuß bildet Nachahmung, Selbstdarstellung und Stoffgestaltung ein
untrennbares Ganzes, nur daß sich je nach der künstlerischen Bildung
des Lesers der Schwerpunkt verschiebt. Aber die Tätigkeit des Dichters
ist in erster Linie in der Stoffgestaltung zu suchen. Wenn wir diese
genauer dahin bestimmt haben, daß es sich dabei um das Ziel der
»Strukture handelt, d. h. um eine dem Inhalt angepaßte hierarchische
Über- und Unterordnung formgebender Kräfte, so verweist diese Auf-
fassung in die Metaphysik des Schönen. Denn die ganze materielle Welt
scheint wie die geistige von dem Ringen um eine sich entfaltende, er-
haltende und wiederherstellende Struktur erfüllt zu sein. Die Stoffgestal-
tung des Künstlers ist nicht ein Schaffen ex nihilo, wohl aber eine Nach-
ahmung oder besser ein Sonderfall der demiurgischen Kräfte, die dem
widerstrebenden Stoffe den Adel der Form aufzuprägen suchen.
 
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