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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 18.1925

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Roretz, Karl: Zur Analyse von Nietzsches künstlerischem Schaffen
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https://doi.org/10.11588/diglit.3820#0054

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ZUR ANALYSE VON NIETZSCHES KÜNSTLERISCHEM SCHAFFEN. 51

Sode von Weltmüden zuruft: »Nicht umsonst hängt euch die Lippe
herab, ein kleiner Erdenwunsch sitzt noch drauf.« Oder in jenem
Worte, das die reife Altersweisheit Goethes wieder lebendig macht:
»Wenn man viel hineinzutun hat, so hat ein Tag hundert Taschen«;
und ähnliches mehr. — Auch die Nietzschesprüche, welche zu geflü-
gelten Worten wurden, beziehen ihre Schlagkraft vielfach von ähnlichen,
typischen Qualitäten her.

Hier ist auch von Nietzsches Vergleichen und Gleichnissen
zu sprechen.

Nietzsche hat Gleichnisse von elementarer Kraft gefunden, Gleich-
nisse, die ihn dem gewaltigsten Gleichnisdichter neuerer Zeit, William
Shakespeare, durchaus an die Seite rücken. Wie dem großen Briten
wachsen sie ihm häufig aus dem Gebiete der Physiologie, ja sogar
der Pathologie zu. Shakespeares würdig ist sein Wort von der endlos
verrinnenden Zeit der Qual, der »speichelflüssigen Hexe Zeit«. »Mit
fliegenden Dolchen schreibt der Schmerz mir ins Gebein,« heißt es
gleich daneben. Ein Gleichnis von bezwingender Gewalt schildert den
Beginn seelischer Mattigkeit: »Schielt nicht mit schiefem Verführerblick
die Nacht mich an?« Elementar wirkt das Bild von der Flamme »mit
weißgrauem Bauch.« Und wie einem Shakespeareschen Märchendrama
entnommen wirkt das zauberische Bild vom »zarten Schuhwerk«
des »Trösters Tau«.

Manchmal läßt sich ganz scharf die Linie ziehen, die den großen
deutschen Dichterphilosophen von dem großen englischen Dramatiker
scheidet. »Der scharlachene Prinz jedes Übermuts« (als Ausdruck
glücklichster Lebensstimmung!); der Zuruf an die Wolken: »Ich will
euch melken, ihr Kühe der Höhe«; das Zorngewitter Zarathustras: »Es
zucken Blitze und schwefelgelbe Wahrheiten: Zarathustra flucht.« — All
das könnte Shakespeare noch nicht geschrieben haben, nur ein höchst
kompliziertes, modernes Denk-Schauen konnte diese Bilder finden.

Da und dort wirkt auch einiges forciert, geschmacklos-übersteigert,
gerät in die verdächtige Nähe der zweiten schlesischen Dichterschule.
Sogar dem typischen Dilettantenfehler, von der rasch nachfolgenden
Wiederholung des eben ausgesprochenen Gleichnisses sich eine Ver-
stärkung des Effekts zu erhoffen, verfällt Nietzsche gelegentlich: »Weint
nicht, ihr weichen Herzen! Ihr Dattelherzen! Milchbusen! Ihr Süßholz-
beutelchen!« singt er in einem der Dionysosdithyramben. — Manchmal
freilich ist das grotesk Auftretende fest gewollt und wohl berechnet,
auch wenn es fast an Rabelais oder gar den Pariser »calembour«
heranstreift: die »vollkommene Kuh« und der »vollkommene Horn-
ochse«, die »Brummbären mit Elefantenrüsseln«, der »Moraltrompeter
von Säckingen« — sie stehen alle an ihrer Stelle.
 
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