ZUR ANALYSE VON NIETZSCHES KÜNSTLERISCHEM SCHAFFEN. 53
hundert Verse hätte,« schreibt er da einmal mit forcierter Heiterkeit,
»ich wette, wette, Der ginge drauf«. Dann wieder, in einer der kargen
Pausen, die ihm der Krankheitsdämon gewährt, bucht er mit wunder-
bar klarer Psychologie den seelischen Gewinn seiner Leiden (Fröh-
liche Wissenschaft, Vorrede): ». . . man kommt aus solchen Ab-
gründen, aus solchem schweren Siechtum . . . neugeboren zurück, ge-
häutet, kitzliger, boshafter, mit einem feineren Geschmack für die Freude,
mit einer zarteren Zunge für alle guten Dinge, mit lustigeren Sinnen ...«
Auch an seinen Feinden — den wahren und den eingebildeten —
leidet er unsäglich: er hat dieses Motiv künstlerisch geformt in dem
wie ein alter deutscher, illuminierter Holzschnitt wirkenden kurzen
Gedicht »Unter Feinden«. Alles ist hier dramatisch gesehen, gesteigert,
von gewaltigem Leben durchbebt. Den Galgen zeigt er uns. Die
Stricke. Den rotbärtigen Henker. Das giftig dreinschauende Volk .. .
Eine Kürze und Prägnanz ohnegleichen.
Der böseste Feind von seinen Feinden war wohl für ihn — seine
Einsamkeit. Auch dieses Motiv hat er immer wieder künstlerisch ge-
staltet, in Gedichten wie in Brief stellen, um ihm in der lastenden
Winterstimmung seines Lieds »Vereinsamt« (»Die Krähen schrein . . .«)
wohl die eindrucksvollste Form zu geben.
Mehr noch als bei anderen, genialen Persönlichkeiten zeigt sich
bei Nietzsche das Produzieren abhängig von seinem Lebensgefühl.
Genauer gesagt: von den momentanen Schwankungen seines Le-
bensgefühls, deren künstlerische Paraphrasen wir immer wieder in
seinen Schriften finden.
Es hat eine außerordentlich weite Amplitude: Bald tritt es hoch-
gradig gesteigert auf, wilde Daseinslust genießend, stärkste Euphorie
verratend. Einige der besten Stellen seiner Schriften gehören hierher.
Er bevorzugt dann das Bewegte, verherrlicht das Feuer; den Tanz;
das Spiel. So im »Mistral«, in der kurzen »Ecce-homo-Strophe«, im
»Trunkenen Lied«. — Dann wieder bekommen Gemütszustände der
Unruhe, gespannter Erwartung die Oberhand: Vom »Unruhig Glück
im Gehen und Stehen und Warten« singt er in dem Hymnus »Auf
hohen Bergen«. Grübelstimmungen treten auf: »Wie lange sitzest
du schon auf deinem Mißgeschick?« fragt Nietzsche-Zarathustra in
»Ruhm und Ewigkeit«. — Dann wieder: Entspannung! Resigna-
tion! Hinneigung sogar zum schlaffen Quietismus:
. .. Wunsch und Hoffen ertrank,
Glatt liegt Seele und Meer.
Aber auch einzelne Spuren tiefster Depression sind uns erhalten
geblieben. So etwa in der »Klage der Ariadne«, die mit dem sie grau-
sam quälenden Gotte hadert: alles natürlich Nietzsches ureigenster Er-
hundert Verse hätte,« schreibt er da einmal mit forcierter Heiterkeit,
»ich wette, wette, Der ginge drauf«. Dann wieder, in einer der kargen
Pausen, die ihm der Krankheitsdämon gewährt, bucht er mit wunder-
bar klarer Psychologie den seelischen Gewinn seiner Leiden (Fröh-
liche Wissenschaft, Vorrede): ». . . man kommt aus solchen Ab-
gründen, aus solchem schweren Siechtum . . . neugeboren zurück, ge-
häutet, kitzliger, boshafter, mit einem feineren Geschmack für die Freude,
mit einer zarteren Zunge für alle guten Dinge, mit lustigeren Sinnen ...«
Auch an seinen Feinden — den wahren und den eingebildeten —
leidet er unsäglich: er hat dieses Motiv künstlerisch geformt in dem
wie ein alter deutscher, illuminierter Holzschnitt wirkenden kurzen
Gedicht »Unter Feinden«. Alles ist hier dramatisch gesehen, gesteigert,
von gewaltigem Leben durchbebt. Den Galgen zeigt er uns. Die
Stricke. Den rotbärtigen Henker. Das giftig dreinschauende Volk .. .
Eine Kürze und Prägnanz ohnegleichen.
Der böseste Feind von seinen Feinden war wohl für ihn — seine
Einsamkeit. Auch dieses Motiv hat er immer wieder künstlerisch ge-
staltet, in Gedichten wie in Brief stellen, um ihm in der lastenden
Winterstimmung seines Lieds »Vereinsamt« (»Die Krähen schrein . . .«)
wohl die eindrucksvollste Form zu geben.
Mehr noch als bei anderen, genialen Persönlichkeiten zeigt sich
bei Nietzsche das Produzieren abhängig von seinem Lebensgefühl.
Genauer gesagt: von den momentanen Schwankungen seines Le-
bensgefühls, deren künstlerische Paraphrasen wir immer wieder in
seinen Schriften finden.
Es hat eine außerordentlich weite Amplitude: Bald tritt es hoch-
gradig gesteigert auf, wilde Daseinslust genießend, stärkste Euphorie
verratend. Einige der besten Stellen seiner Schriften gehören hierher.
Er bevorzugt dann das Bewegte, verherrlicht das Feuer; den Tanz;
das Spiel. So im »Mistral«, in der kurzen »Ecce-homo-Strophe«, im
»Trunkenen Lied«. — Dann wieder bekommen Gemütszustände der
Unruhe, gespannter Erwartung die Oberhand: Vom »Unruhig Glück
im Gehen und Stehen und Warten« singt er in dem Hymnus »Auf
hohen Bergen«. Grübelstimmungen treten auf: »Wie lange sitzest
du schon auf deinem Mißgeschick?« fragt Nietzsche-Zarathustra in
»Ruhm und Ewigkeit«. — Dann wieder: Entspannung! Resigna-
tion! Hinneigung sogar zum schlaffen Quietismus:
. .. Wunsch und Hoffen ertrank,
Glatt liegt Seele und Meer.
Aber auch einzelne Spuren tiefster Depression sind uns erhalten
geblieben. So etwa in der »Klage der Ariadne«, die mit dem sie grau-
sam quälenden Gotte hadert: alles natürlich Nietzsches ureigenster Er-