56 KARL RORETZ.
nennen dürfen — erinnert in seiner künstlerischen Struktur oft frap-
pant an eine zweite, ungeheure Dichtung der Weltliteratur: ich meine
Dantes »Divina Commedia«.
Das mag zunächst etwas paradox klingen: Was sollten denn
Nietzsches absolute Diesseitigkeit und Dantes magische Jenseitigkeit,
Nietzsches barocke Anordnung, ja Unordnung und des Florentiners
strenge, ja pedantische Architektonik . . . was sollten sie denn mitein-
ander gemein haben?
Aber dem geschärften Blick tritt doch die Ähnlichkeit deutlich
hervor: Nietzsche wie Dante schreiten beide mit harten Schritten die
Welt ab. Ihre Welt! Nietzsche und Dante empfangen in immer mehr
gesteigerter Erlebnisfolge ihre Offenbarungen. Empfangen sie beide
wandernd. Und ihre Gestalten wandern mit ihnen, an ihnen vor-
über: wandelnde Symbole! — Und die gleiche, ungeheure Gefühls-
dynamik flutet durch Zarathustra wie durch Dante. Furchtbare Af-
fekte entladen sich: Entsetzen! Zorn! Sprachloses Staunen! Härte und
Mitleidslosigkeit hier wie dort! Die Figuren bei beiden häufig in
äußerster Erregung, heftiger Bewegung. Laut rufend, schreiend stürzen
sie heran. Die Wucht des Geschauten überwältigt Dante wie Zara-
thustra. Mehrmals stürzt Zarathustra zusammen »wie eine Eiche«
»Und wie ein Leichnam hinfällt, fiel ich hin,« heißt es am Ende des
VI. Gesanges des »Inferno«. — Und noch eine interessante Ähnlich-
keit: das zögernde Sich-Loslösen einiger Gestalten aus ihrer Umgebung
ist der glänzende, psychologische Trick, den Dante und Nietzsche
mehrmals verwenden: die gespensterhafte Vertrautheit, mit der
uns jene Wesen dann erfüllen, ist ihr Effekt. Gleiche Technik aber
gestattet doch wohl den Rückschluß auf gleiches dichterisches Grund-
gefühl!
Läßt man die Gestalten dieser Zarathustrawelt an sich vorüber-
ziehen, so fällt auf, daß der Großteil davon einen gewissen Einschlag
grotesker Komik hat. Das ist vermutlich wohl durchdacht. Erinnern
wir uns, daß nach Zarathustras Ausspruch der jetzige Mensch sich
zum Übermenschen verhalten soll wie der Affe zum Menschen: wie
ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham! Daher mußte die Achse
seines Wesens dem Peinlich-Lächerlichen, dem Seltsam-Verkehrten zu-
gedreht werden. Nietzsche hat sie ihm zugedreht! Auch hiermit
stellt sich sein Künstlertum in den Dienst seines Denkens.
Der zweite Hauptgedanke der Nietzscheschen Ideenwelt ist be-
kanntlich die Lehre von der »Ewigen Wiederkunft des Gleichen«.
— Wiederum mußte er hier seine ganze, unerhörte Meisterschaft auf-
bieten, um diesen zunächst trockenen, sogar trivialen, ja förmlich ab-
stoßenden Gedanken, der der trägen Psyche des Philisters gar nicht
nennen dürfen — erinnert in seiner künstlerischen Struktur oft frap-
pant an eine zweite, ungeheure Dichtung der Weltliteratur: ich meine
Dantes »Divina Commedia«.
Das mag zunächst etwas paradox klingen: Was sollten denn
Nietzsches absolute Diesseitigkeit und Dantes magische Jenseitigkeit,
Nietzsches barocke Anordnung, ja Unordnung und des Florentiners
strenge, ja pedantische Architektonik . . . was sollten sie denn mitein-
ander gemein haben?
Aber dem geschärften Blick tritt doch die Ähnlichkeit deutlich
hervor: Nietzsche wie Dante schreiten beide mit harten Schritten die
Welt ab. Ihre Welt! Nietzsche und Dante empfangen in immer mehr
gesteigerter Erlebnisfolge ihre Offenbarungen. Empfangen sie beide
wandernd. Und ihre Gestalten wandern mit ihnen, an ihnen vor-
über: wandelnde Symbole! — Und die gleiche, ungeheure Gefühls-
dynamik flutet durch Zarathustra wie durch Dante. Furchtbare Af-
fekte entladen sich: Entsetzen! Zorn! Sprachloses Staunen! Härte und
Mitleidslosigkeit hier wie dort! Die Figuren bei beiden häufig in
äußerster Erregung, heftiger Bewegung. Laut rufend, schreiend stürzen
sie heran. Die Wucht des Geschauten überwältigt Dante wie Zara-
thustra. Mehrmals stürzt Zarathustra zusammen »wie eine Eiche«
»Und wie ein Leichnam hinfällt, fiel ich hin,« heißt es am Ende des
VI. Gesanges des »Inferno«. — Und noch eine interessante Ähnlich-
keit: das zögernde Sich-Loslösen einiger Gestalten aus ihrer Umgebung
ist der glänzende, psychologische Trick, den Dante und Nietzsche
mehrmals verwenden: die gespensterhafte Vertrautheit, mit der
uns jene Wesen dann erfüllen, ist ihr Effekt. Gleiche Technik aber
gestattet doch wohl den Rückschluß auf gleiches dichterisches Grund-
gefühl!
Läßt man die Gestalten dieser Zarathustrawelt an sich vorüber-
ziehen, so fällt auf, daß der Großteil davon einen gewissen Einschlag
grotesker Komik hat. Das ist vermutlich wohl durchdacht. Erinnern
wir uns, daß nach Zarathustras Ausspruch der jetzige Mensch sich
zum Übermenschen verhalten soll wie der Affe zum Menschen: wie
ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham! Daher mußte die Achse
seines Wesens dem Peinlich-Lächerlichen, dem Seltsam-Verkehrten zu-
gedreht werden. Nietzsche hat sie ihm zugedreht! Auch hiermit
stellt sich sein Künstlertum in den Dienst seines Denkens.
Der zweite Hauptgedanke der Nietzscheschen Ideenwelt ist be-
kanntlich die Lehre von der »Ewigen Wiederkunft des Gleichen«.
— Wiederum mußte er hier seine ganze, unerhörte Meisterschaft auf-
bieten, um diesen zunächst trockenen, sogar trivialen, ja förmlich ab-
stoßenden Gedanken, der der trägen Psyche des Philisters gar nicht