92 AUGUST SCHMARSOW.
wüßt und unwillkürlich vollzogen werden; denn es bleibt immer eine
Übertragung auf zwei andersgeartete Stellvertreter, die der angeborenen
Richtung nicht entsprechen und keinen gleichwertigen Ersatz zu ge-
währen imstande sind. Höhe und Breite sind nun einmal etwas an-
deres als die Tiefe. Entweder verschiebt sich das nach außen drän-
gende Gebaren, wird verquetscht, und der ursprünglichste Zug der
Gebärde geht in die Brüche; das heißt doch: er wird veruntreut,
wenigstens bis zu einem gewissen Grad um seinen Charakter be-
trogen. Oder aber schon der Impuls im ausführenden Gliede selbst —
dem Arm, der Hand, den Fingern — wird abgelenkt, auf einen Rich-
tungswechsel eingestellt, der eine keineswegs gleichgültige Abwandlung
des Ergebnisses mit sich bringt. Und ist solch ein psychophysischer
Vorgang nicht eine bedenkliche Zumutung für das Ich am Ursprung?
Die Sichtbarmachung des Seelenlebens in solchem linearen Gekritzel
oder fleckenhaften Getusche wird also um einen Preis erkauft, der
nicht weniger Einbuße bedeuten dürfte als die Verwandlung des stimm-
lichen und des mimischen Ergusses in die Lautgebärde, das Wort, —
nicht geringere Einbuße als die Sprache schon der Urkraft des Aus-
drucks und dem uranfänglich reinen Gebaren jedes Gedankens aufer-
legt. — Von dem Einfluß des Werkzeugs in den Fingern, des Pinsels
beim Tuschen und Malen, des Griffels beim Zeichnen und Kritzeln,
ist dabei noch ganz abgesehen, und der spielt doch gewiß eine ebenso
mitwirkende Rolle wie die Feder und ihr Stiel beim Schreiben. Der
Einfluß aller hervorgehobenen Bedingungen des Kritzeins oder Zeich-
nens wird in seiner Wichtigkeit für das Zustandekommen des Ergeb-
nisses erst recht einleuchten, wenn man sie zu der weiteren Möglich-
keit des Eingreifens in die vorhandene Unterlage verfolgt, d. h. zur
Entstehung eines Reliefs auf der bisher als unantastbare Gegebenheit
aufrechterhaltenen Oberfläche. Unter dem Kunstausdruck »Relief« ver-
stehen wir eine benachbarte zur Sichtbarkeit emporgehobene Zone
unseres Tastraumes mit seiner Körperlichkeit, deren wir sonst nur
durch Druck und Stoß innewerden. Diese zur Berührung und ein-
greifenden Bearbeitung mit Fingern, Händen oder Modellierholz und
Meißel nahe genug vorliegende Zone des Steinblocks oder der Ton-
erde bildet also die Grenze zwischen unserem Sehraum und Tastraum
derart, daß eine Sphäre des letzteren in den ersteren hineinragt oder
vielmehr von jenem überdeckt wird. Die Kunst des Bildners besteht
in der Emporführung des Tastbar-Körperlichen zur Sichtbarkeit, und
zwar im Relief nur einseitig, so daß der Rest im Material darinsteckt, —
in der statuarischen Freiplastik dagegen zu allseitiger Sichtbarkeit
ringsum, so daß nur das Körpervolumen selbst als tastbarer Grund-
stock übrig bleibt.
wüßt und unwillkürlich vollzogen werden; denn es bleibt immer eine
Übertragung auf zwei andersgeartete Stellvertreter, die der angeborenen
Richtung nicht entsprechen und keinen gleichwertigen Ersatz zu ge-
währen imstande sind. Höhe und Breite sind nun einmal etwas an-
deres als die Tiefe. Entweder verschiebt sich das nach außen drän-
gende Gebaren, wird verquetscht, und der ursprünglichste Zug der
Gebärde geht in die Brüche; das heißt doch: er wird veruntreut,
wenigstens bis zu einem gewissen Grad um seinen Charakter be-
trogen. Oder aber schon der Impuls im ausführenden Gliede selbst —
dem Arm, der Hand, den Fingern — wird abgelenkt, auf einen Rich-
tungswechsel eingestellt, der eine keineswegs gleichgültige Abwandlung
des Ergebnisses mit sich bringt. Und ist solch ein psychophysischer
Vorgang nicht eine bedenkliche Zumutung für das Ich am Ursprung?
Die Sichtbarmachung des Seelenlebens in solchem linearen Gekritzel
oder fleckenhaften Getusche wird also um einen Preis erkauft, der
nicht weniger Einbuße bedeuten dürfte als die Verwandlung des stimm-
lichen und des mimischen Ergusses in die Lautgebärde, das Wort, —
nicht geringere Einbuße als die Sprache schon der Urkraft des Aus-
drucks und dem uranfänglich reinen Gebaren jedes Gedankens aufer-
legt. — Von dem Einfluß des Werkzeugs in den Fingern, des Pinsels
beim Tuschen und Malen, des Griffels beim Zeichnen und Kritzeln,
ist dabei noch ganz abgesehen, und der spielt doch gewiß eine ebenso
mitwirkende Rolle wie die Feder und ihr Stiel beim Schreiben. Der
Einfluß aller hervorgehobenen Bedingungen des Kritzeins oder Zeich-
nens wird in seiner Wichtigkeit für das Zustandekommen des Ergeb-
nisses erst recht einleuchten, wenn man sie zu der weiteren Möglich-
keit des Eingreifens in die vorhandene Unterlage verfolgt, d. h. zur
Entstehung eines Reliefs auf der bisher als unantastbare Gegebenheit
aufrechterhaltenen Oberfläche. Unter dem Kunstausdruck »Relief« ver-
stehen wir eine benachbarte zur Sichtbarkeit emporgehobene Zone
unseres Tastraumes mit seiner Körperlichkeit, deren wir sonst nur
durch Druck und Stoß innewerden. Diese zur Berührung und ein-
greifenden Bearbeitung mit Fingern, Händen oder Modellierholz und
Meißel nahe genug vorliegende Zone des Steinblocks oder der Ton-
erde bildet also die Grenze zwischen unserem Sehraum und Tastraum
derart, daß eine Sphäre des letzteren in den ersteren hineinragt oder
vielmehr von jenem überdeckt wird. Die Kunst des Bildners besteht
in der Emporführung des Tastbar-Körperlichen zur Sichtbarkeit, und
zwar im Relief nur einseitig, so daß der Rest im Material darinsteckt, —
in der statuarischen Freiplastik dagegen zu allseitiger Sichtbarkeit
ringsum, so daß nur das Körpervolumen selbst als tastbarer Grund-
stock übrig bleibt.