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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 18.1925

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BESPRECHUNGEN. 1 1 5

sächlichen Größen und Formen im Räume grundsätzlich und für ewig rationaler Ab-
leitung entrückt; Begriffe sind rational, irrational ihre Realisierung; physikalische For-
meln rational, irrational ihre Konstanten, als welche jedesmal das Faktum maskieren.
Und wenn die Mechanistik auch alles Geschehen uns aus seinen Ursachen begreiflich
macht: eine unbegreifliche Lage wenigstens wird in jedem Augenblick vorausgesetzt,
damit aus ihr eine neue wirkliche, das aber heißt: unbegreifliche Lage auf begreifliche
Weise hervorgehen kann. Wer dies Unleugbare leugnet, den täuscht eine Verwechslung:
er will den Sinn des Kosmos verfechten — und darum behauptet er dessen Logik.
Aber umgekehrt gilt es: nichts Sinnvolles ist logisch; nichts Logisches kann sinnvoll sein.
Vor allem muß das der Ästhetiker wissen: je mathematischer und errechenbarer eine
Linie, desto minder taugt sie zum Ausdruck von Empfindung; je planer, umso platter
geraten dichterische Gestalten; und anderseits: je höhere Bedeutung ein Kunstwerk
enthält, umso tiefer versinkt es in dämmriger Lebendigkeit. Denn Leben ist durch-
unddurch und als solches vernunftfrei; nicht etwa untervernünftig, nein, unendlich
übervernünftig (wie der Verfasser öfter unterstreicht); irgend ein Lebendes — oder
auch nur irgend ein Seiendes rational deduzieren zu wollen, wäre nicht klüger als der
Plan, ohne Hände aus heller Luft Maschinen zu bauen. Aber jene Rationalisten, die
sich seit Parmenides' Zeiten um das löbliche Werk bemühen : die von der ontologi-
schen Observanz — lassen wir stehen: sie bleiben unbelehrbar.

Indessen — es gibt einen feineren Rationalismus: den erkenntnistheoretischen.
Der verwechselt nicht das Gradnetz mit den Ländern und Meeren; behauptet aber,
daß es keinen Punkt auf Erden gebe, durch den nicht ein Meridian und ein Parallel-
kreis laufen müßte. Logik und Mathematik, unbildlich gesprochen, machen zwar nicht
das Sein, wohl aber das Erkennen erst möglich. Sie sind die Instrumente des Geistes,
der in sich irrationalen Wirklichkeit Herr zu werden; so weit also Rationalisierung ge-
lingt, so weit reden wir von Erkenntnis; wo die Werkzeuge etwa zerbrechen, hört
auch alle Erkenntnis auf. Wie das nun denklich ist, daß ein Vernunftfremdes dennoch
von Vernunft gefaßt und gebändigt wird, das läßt sich so in der Eile nicht zeigen;
wir verweisen da auf Kants noch heute tüchtige Formulierung: Erfahrung kommt
zustande, indem ein unbegrifflich »Gegebenes begrifflich und mathematisch »ge-
formt« wird.

So fragt sich — und dies ist das Thema des vorliegenden Buches: sind die ra-
tionalen Methoden die einzigen, die echtes Wissen liefern? Das bestreitet unser
Verfasser mit packender Energie. Im Gegensatz also zu dem erkenntnistheoretischen
Rationalismus verficht er den »Irrationalismus«. Denn zuvörderst: die Wurzeln der Ver-
nunft selber entkeimen übervernünftigem Samen. Die Urforderungen unseres Denkens:
Substanzialität, Kausalität, Individualität und die »modalen« Setzungen sind eigentlich
Instinkte (S. 175ff., 192, 207) des werdenden Menschen, triebhafte Stellungnahmen
zur Welt, aus denen die Erfahrung — auch die rationale — als lebensfördernde Tätig-
keit erwächst (S. 35). So bleibt denn für ihren Wert die Förderung des Lebens das
höchste Kriterium; freilich nicht der »Nutzen im banalen Sinne« (S. 39), sondern die
Erweiterung und Bereicherung des Daseins im weitesten Ausmaß (S. 43). »Ein Wis-
sen, das niemandes Wirken dienen kann, verdient den Namen Erkenntnis überhaupt
nicht. Wenn ein Geisteskranker ausrechnet, wie viele Worte der Bibel den Buchstaben
N enthalten, so mag das Ergebnis ein Wissen sein, kein vernünftiger Mensch jedoch
wird darin... eine Erkenntnis sehen« (S. 29 f.). Als Vi tal realismus bezeichnet
der Verfasser diesen Standpunkt und grenzt ihn gegen die nahestehenden Programme
säuberlich ab (S. 38ff.).

Wird nun der »Vitalrealist« bloß das rationalisierende Erkennen als daseins-
fördernd betrachten dürfen? Keineswegs; vielmehr muß es, um die Welt recht aus-
 
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