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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 18.1925

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Panofsky, Erwin: Über das Verhältnis der Kunstgeschichte zur Kunsttheorie
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https://doi.org/10.11588/diglit.3820#0145

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142 ERWIN PANOFSKY.

5. Wenn somit die kunstwissenschaftlichen Grundbegriffe zweifel-
los a priori begründet sind, und daher unabhängig von aller Erfah-
rung gelten, so ist damit natürlich nicht gesagt, daß sie unabhängig
von aller Erfahrung, d. h. auf rein verstandesmäßigem Wege, gefun-
den werden könnten: so wenig sie — erkenntnistheoretisch ge-
sprochen — in der Erfahrung ihren Ursprung haben, so wenig können
sie — praktisch-methodisch gesprochen — abseits von der Erfahrung
entdeckt und entwickelt werden. Denn da die künstlerischen Grund-
probleme, als deren Formulierung wir diekunstwissenschaftlichen Grund-
begriffe aufzufassen haben, den a priori gesetzten Gegensatz zwischen
»Fülle« und »Form«, »Zeit« und »Raum« bereits in einer spezifisch
sinnlichen Sphäre zur Darstellung bringen, so setzt schon die Er-
kenntnis dieser Grundprobleme den Eindruck der empirischen (visu-
ellen) Erscheinung voraus; und was von der Erkenntnis der Grund-
probleme gilt, gilt in womöglich noch höherem Grade von der Er-
kenntnis der Einzelprobleme: die künstlerischen Probleme sind nur
aus ihren Lösungen, d. h. den Kunstwerken, erkennbar, und wenn
die diese Probleme formulierenden Begriffe den Anspruch apriorischer
Geltung erheben, so besagt dieser Anspruch nicht, daß sie a priori
gefunden, sondern nur, daß sie a priori legi timiert werden können.
Umgekehrt wäre es natürlich verfehlt, die aposteriorische Entdeckung
der kunstwissenschaftlichen Begriffe gegenüber ihrer apriorischen Gel-
tung ins Feld führen zu wollen. So gewiß der Pythagoreische Lehr-
satz, obgleich er zunächst in einer Anschauung a posteriori entdeckt
wurde, dennoch aus einer Anschauung a priori begründet werden kann

Stildifferenz zwischen mehreren künstlerischen Phänomenen bezeichnet wird, son-
dern die Grenze zweier Sphären, die (logisch) innerhalb eines und desselben
künstlerischen Phänomens unterschieden werden!

Was aber den noch immer gebrauchten Gegensatz »formalistische Kunst«
(Vart pour l'art) und »Inhaltskunst« betrifft, so ist zu sagen, daß diese Begriffe aus
der Reihe der kunstwissenschaftlichen Begriffe gestrichen werden müßten. Denn
das Verhältnis zwischen Form und Inhalt bildet gar kein künstlerisches Problem,
das (wie etwa das Problem Fläche und Tiefe) in dem einen oder anderen Sinn
entschieden werden könnte, sondern die Sache steht entweder so, daß ein be-
stimmter »Inhalt« in die »Form« eingegangen ist (dann und nur dann ist er ein
Inhalt des Kunstwerks, und man kann gar nicht mehr fragen, ob er wesentlicher
oder unwesentlicher sei als die »Form«) — oder aber so, daß er nicht in die
»Form« eingegangen ist (dann ist er ein Inhalt neben dem Kunstwerk und kann den
Stil desselben nicht beeinflußen). Im übrigen gibt es jedoch auch für die »Inhalts-
Sphäre« ein »Grundproblem«, dessen Pole auf Seiten der »Form« mit dem Aus-
druck »Definierbarkeit« (Allgemeingültigkeit), auf seifen der Fülle mit dem Aus-
druck »Undefinierbarkeit« (Einmaligkeit) bezeichnet werden können. Die Lösungen
(die notwendig mit denen der »formalen« Grundprobleme im Einklang stehn), nähern
sich entweder der reinen »Mitteilung« oder aber dem reinen »Gefühlsausdruck«
an, wobei sie diese Extreme natürlich niemals ganz erreichen dürfen.
 
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