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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 18.1925

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Kainz, Friedrich: Zur dichterischen Sprachgestaltung
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https://doi.org/10.11588/diglit.3820#0199

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196 FRIEDRICH KAINZ.

Iung des Dichters bestimmt sind. — Das Material des Dichters ist das
nämliche wie das des gewöhnlichen Menschen zum alltäglichen, münd-
lichen und schriftlichen Verkehr: die Sprache in ihrer jeweilig logischen
und emotional-affektiven Wirkungsmöglichkeit. Aber das Ziel, zu
dessen Erreichung dieses Mittel angewendet wird, ist verschieden. Im
Alltagssprachverkehr soll bloß zu einem praktisch-sachlichen Zweck
die Mitteilung eines Faktums, soll Verständigung erzielt werden;
im anderen Fall handelt es sich um Erreichung ästhetischer, also vor-
wiegend gefühlsmäßiger Wirkungen, die über das bloße Verstanden-
werden hinausgehen, wenngleich dieses als Voraussetzung zu gelten
hat. Dazu kommt noch ein subjektiv-psychisches Moment. Ein Dicht-
werk ist nicht bloß eine verstandesmäßige Mitteilung, die der Dichter
seinem Publikum in sachlicher Ruhe zukommen läßt, sondern ist Aus-
druck, Aussprache innerer drängender und bedrängender Erlebnisse.
Das Streben nach dichterischer Abreaktion wird daher öfters eine ge-
steigerte Sprachform wählen, weil das erstrebte Ziel der seelischen
Katharsis auf diesem Wege leichter erreicht wird. Je reger und drängen-
der das nach Ausdruck strebende Innenleben eines Dichters ist, desto
abrupter, interjektiver, emotionaler, unalltäglicher wird die Sprache dieses
Dichters sein. Gutes Beispiel dafür ist die Sprachgestaltung der
Stürmer und Dränger.

Diese erweiterten Ziele der künstlerischen Sprachbehandlung müssen
natürlich auch eine gewisse Differenzierung innerhalb des Sprachmate-
rials zur Folge haben, d. h. sie können erst auf Grund dieser Anders-
artung erreicht werden. Diese Differenzierung wird nun im wesentlichen
als eine Steigerung !) der Alltagssprache, der Sprache des gewöhn-
lichen, außerästhetischen Verkehrs aufzufassen sein. R. M.Werner2)
sagt hierüber im Anschluß an Hebbel: »Schon in der Forderung, das
Wort müsse dem musikalischen Wohlklang dienen, ist ausgesprochen,
daß der Dichter nicht das nächstbeste, sondern das treffendste, nicht
das geläufigste, sondern das seltene Wort wählen wird . . . Der Wort-

') Der Ausdruck »Steigerung«, den man sonst oft verwendet, ohne einen
exakten Begriff damit zu verbinden, ist hier in jenem konkreten Sinn gefaßt, den
ihm zwei psychologische Untersuchungen (Ch. Ruths, Induktive Untersuchungen
über die Fundamentalgesetze der psychischen Phänomene Bd. I. Experimentalunter-
suchung über Musikphantome usw. 1898 und O. Sterzinger, Das Steigerungsphäno-
men beim künstlerischen Schaffen. Zeitschr. f. Ästh. XII, S. 69 f.) verliehen haben.
Beide Forscher, die sich mit der Wirkung dieses psychologischen Gesetzes im Gebiet
des künstlerischen Schaffens eingehend beschäftigten, haben auch dessen Zusammen-
hang mit den Vorgängen der dichterischen Sprachbehandlung erkannt und erörtert,
freilich ohne alle hierhergehörenden Probleme zu lösen.

2) Lyrik und Lyriker. Hamburg u. Leipzig 1890 (Beitr. zur Ästh., herausgegeb.
von Lipps u. Werner Nr. 1) S. 428.
 
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