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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 18.1925

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Kainz, Friedrich: Zur dichterischen Sprachgestaltung
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https://doi.org/10.11588/diglit.3820#0201

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198 FRIEDRICH KAINZ.

Fall handelt es sich um das angewendete Stilprinzip der Idealisierung;
im anderen Fall fühlt sich der Künstler nicht veranlaßt, die Wirklich-
keit irgendwie zu erhöhen, zu verschönern; was er anstrebt, ist eine
möglichst adäquate Nachbildung.

Es wird an anderem Ort noch eingehend zu zeigen sein, daß vom
Gesichtspunkt der Steigerung aus eine solche Scheidung der Stilweisen
nicht ohne weiteres möglich ist, denn auch die naturalistischen und
realistischen Kunstrichtungen kennen die Steigerung als künstlerisches
Gestaltungsprinzip zumindest in ihrer künstlerischen Praxis, wenn schon
nicht in ihrer Theorie. Immerhin können wir vorläufig diese Zweiheit
von Idealismus (wirklichkeitssteigerndem) und Realismus, Naturalismus
(wirklichkeitsnachahmendem Stil) beibehalten, wenngleich nur als metho-
dischen Ausgangspunkt, als heuristisches Prinzip, nicht als eine auch
für uns schlechthin verpflichtende sachliche Erkenntnis.

Wir können also von der Zweiheit der idealistischen und natura-
listischen Kunstprinzipien ausgehen; hinsichtlich des formellen Elements
mit dem meisten Recht, denn hier zeigen sich noch die bedeutsamsten
Unterschiede. Ja, man sieht in der Sprachbehandlung ein entschei-
dendes Kennzeichen für die Scheidung der Stilweisen J).

Der dichterische Idealismus sucht sich auch durch Behandlung
des Sprachmaterials von der Wirklichkeit möglichst entschieden abzu-
heben, während der Naturalismus danach strebt, seine Sprachbehand-
lung derjenigen der alltäglichen Wirklichkeit möglichst anzunähern.
Der Idealstil verwendet also die Sprache als ein stilisierendes, wirk-
lichkeitsentfernendes Element, er strebt eine durchwegs erhöhte Sprach-
gestaltung an; er vermeidet nicht nur gemeine, abgedroschene, son-
dern für gewöhnlich auch volkstümliche Ausdrücke überhaupt. »Ein
logisch durchgebildeter Satzbau, edle und erhabene Bilder, eine kunst-
volle und getragene Redeweise ersetzen ihm die Sprache des Lebens.«
Anderseits zeigt der Naturalismus, seinem obersten Stilprinzip gemäß,
möglichsten Anschluß an die Wirklichkeit, auch in der Sprachbehand-
lung. »Der Naturalismus ahmt die Sprache des Lebens unmittelbar
nach. Er vermeidet Vulgarismen nicht, er sucht sie vielmehr, soweit
sie ihm charakteristisch erscheinen.« Moderne Naturalisten machen
von diesem Grundsatz ausgiebigsten Gebrauch. Zu Vulgarismus,
Solözismus, Barbarismus gesellt sich die Herrschaft der Schichten-
sprache (Argot) und der Mundart, die die für naturalistische Dichtungen
gemäßeste Form darstellt. Diese absolute Wirklichkeitstreue ist aber
nur scheinbar vorhanden.

Der Unterschied zwischen Idealismus und Naturalismus liegt nicht

') Vgl. R. Lehmann, Deutsche Poetik, München 1908, S. 198 ff.
 
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