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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 18.1925

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Herrmann, Helene: Studien zu Heinrich von Kleist
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https://doi.org/10.11588/diglit.3820#0307

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304 HELENE HERRMANN.

wurde, der ist ihm nun erst in seiner ganzen Größe sichtbar. Und
war noch Bedenken in ihm, dies Leben nicht dem Gesetz zu opfern,
jetzt ist das letzte geschwunden — der Prinz ist begnadigt. Eine
Sinneswandlung? Jedenfalls eine »Sinnesweitung«.

Für uns aber, die Hörer, ist nun das Drama eine völlig geschlossene
Einheit, uns ist alles wieder bewußt, was wir von der Gefährdung
des Prinzen miterlebten. Ich begegne dem Einwand, Hohenzollern
selbst berühre nur das menschliche Spiel, nicht seine gefährliche Fort-
setzung im Gang der Dinge — dies geht ihn nichts an, der ja dem
Kurfürsten einen moralischen Vorwurf machen will: da genügt, was
vor der Schlacht lag.

Für uns dagegen bedeutet dies Anschlagen des ersten Tones das
Wieder- und Weiterklingen der ganzen Melodie. Und so wird die
jetzt wieder ganz lebendige (im Kurfürsten erst hier lebendig, weil be-
wußt werdende) Gefährdung zum Maßstab des Aufschwunges im
Prinzen. In uns entflammt sie den reinen Menschenjubel, der losbricht
bei den Worten:

»Ich will das heilige Gesetz des Kriegs,
Das ich verletzt im Angesicht des Heers,
Durch einen freien Tod verherrlichen!«

Wie das Wort »frei« hier zum ganzen Umfang seiner Bedeutung ge-
kommen ist, da noch einmal alles erschien, was Gebundenheit heißen
könnte!

Das was das ganze Drama darstellt: der Mensch, erschüttert und
gebunden, kann sich frei kämpfen und wachsen in eine Sicherheit, die
nichts mehr erschüttert, das bringt die Hohenzollernszene, und was
ihr folgt, noch einmal gesteigert und verdichtet.

Es kehren am Schluß des Dramas die Motive des Anfangs und
der Mitte rückläufig wieder in umgekehrter Bedeutung: das Öffnenlassen
des Grabes als Maßstab gewonnener Todessicherheit entspricht dem
zufälligen erschütternden Anblick des geöffneten Grabgewölbes, die ent-
schwebende Todesleichtigkeit des Monologs der erdschweren Todes-
furchtszene, der Traumszene des Anfangs die Schlußszene, da der
Reigen, der dem Prinzen entfloh, sich dem Sieger zubewegt. So ist
es denn auch für uns von höchster Bedeutung, daß derselbe, der ver-
suchendes Werkzeug der erschütternden Mächte war, der Kurfürst, Be-
freier wird und Gewährer höchster Sicherheit. Gerade dieser Parallelis-
mus verstärkt die erlösende Wirkung des ganzen Werkes, das in unserer
Seele aufgeht als ein schwer errungenes und umso volleres »Ja« zum
Leben.
 
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