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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 18.1925

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Sommer, Kurt: Über Gruppierung der Gestalten im Drama
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https://doi.org/10.11588/diglit.3820#0309

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306 KURT SOMMER.

die Gestaltengruppe, d. h. das von uns begrifflich gefaßte System von
Zuordnungen der Personen, bei der Entstehung eines Dramas — min-
destens dem Dichter unbewußt — gestaltend wirksam?

Diese Frage ist zu bejahen. Es läßt sich nämlich zeigen, daß der
Begriff der Gestaltengruppe schon mit dem Begriffe des Dramas1)
schlechthin gegeben ist. Obwohl man über Begriff und Wesen des
Dramas viel gestritten hat, wird man sich doch allerseits soweit einigen,
daß es sich im Drama um einen Kampf, einen Gegensatz (»Spiel und
Gegenspiel«) irgendwelcher Art handelt (zunächst einerlei, ob derGegen-
satz durch den Ausgang des Dramas aufgehoben wird oder nicht),
und daß dieser Gegensatz stets in handelnden, d. h. aufeinander wirken-
den, menschlichen Wesen erscheint. In der Gesamtheit der Verhält-
nisse, Beziehungen und Wechselwirkungen der handelnden Personen
stellt sich mithin das Grundgefüge eines Dramas dar, der Organi-
sationsplan, auf dem der ganze Bau des Werkes beruht2). Die Ge-
staltengruppe ist aber, unserer Definition gemäß, gerade der Ausdruck
jenes Komplexes von Verhältnissen, folglich auch der Ausdruck dieses
dramatischen Grundgefüges; wenn es gelingt, die Gestaltengruppe augen-
fällig darzustellen, so ist damit das innere Gefüge des Dramas abge-
bildet. Verwerten können wir es einmal für die Betrachtung der ein-
zelnen Gestalt, indem wir ihre Stellung und Bedeutung innerhalb der
Gruppe zum Ausgangspunkt der Beurteilung nehmen; wichtiger noch
ist uns die Ansicht der ganzen Gruppe, weil wir aus ihr neue Ge-
sichtspunkte für die Erörterung der Kompositionsprobleme, besonders
der Frage nach der Einheit des Werkes, gewinnen. Durch eine solche,
gleichsam skelettierende Betrachtungsweise wird die Einzelinterpretation
und Einzelforschung am Drama keineswegs überflüssig gemacht; jene
kann diese natürlich nie ersetzen, wohl aber nach einer gewissen Seite
ergänzen. Gerade das feinere Poetische offenbart sich erst bei der Be-
trachtung einzelner Züge eines Vorganges, einzelner Linien einer Ge-
stalt im Drama (wie es ähnlich in der bildenden Kunst der Fall ist);
doch leicht verliert sich dabei die Gesamtansicht der Komposition.
Diese aber wird bei unserem Verfahren zum ersten Gesichtspunkt
erhoben.

Es entsteht nun die Frage: mit welchen Mitteln ist die Gestalten-

') Wir meinen mit diesem Begriff die Dichtungsart, deren Epoche mit Aischylos
beginnt und die bis heute den europäischen Völkern gemeinsam ist.

2) In O. Ludwigs Sinne wäre dies schon die »Idee« des Dramas (Werke, herausg.
v. A. Eloesser, 4. Teil, S. 304). Ich möchte es im übrigen vermeiden, mit dem vielge-
deuteten Begriffe der »Idee« zu arbeiten. Über die dramatische Idee handelt M. Lex,
Die Idee im Drama, München 1904; vgl. dazu die von R. Petsch in seiner Rezension
des Buches (Euphorion 1905) auf S. 220 gegebene Definition des Begriffes.
 
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