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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 18.1925

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Bertalanffy, Ludwig von: Expressionismus und Klassizismus
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https://doi.org/10.11588/diglit.3820#0346

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EXPRESSIONISMUS UND KLASSIZISMUS. 343

»Du hast sie zerstört, Mächtiger

Die schöne Welt, Der Erdensöhne,

Mit mächtiger Faust: Prächtiger

Sie stürzt, sie zerfällt! Baue sie wieder,

Ein Halbgott hat sie zerschlagen! In deinem Busen baue sie auf!«

Eine kosmische, eine klassische Kunst ist uns daher Notwendigkeit.

Schon einmal hat unser germanischer Kulturkreis einen Klassizis-
mus erlebt. Die letztgenannte Bewegung war literarisch, und die Pro-
dukte der bildenden Kunst jener Epoche, die Werke eines Karstens
oder Mengs sind nichts als übel gemalte Literatur gewesen. Der
Expressionismus hat uns unstreitig neues Gefühl für den Wert von
Farbe und Linie geschenkt; diese Errungenschaften dürfen nicht ver-
loren gehen, sondern werden dem neuen Klassizismus seine Marke
aufdrücken. So wird bewirkt werden, daß jener neue Stil wirklich
aus dem Geiste der Malerei und dem Geiste unserer Zeit entspringt,
und nicht bloß ein literarisches Experiment ist. Große Meister, wie
Ingres, Prudhon, Marees haben verschiedene Wege zu einer klassi-
schen Kunst gewiesen; auf einem dieser Wege wird die Kunst der
nächsten Zukunft weiterschreiten.

Der Expressionismus glaubte, eine durchaus neue Welt und Welt-
auffassung finden zu können. Es war ein Wahn. Wir leben in einer
Spätzeit der Kultur, und unsere Aufgabe, die Aufgabe des kleingewor-
denen Geschlechtes, ist nicht, neue Werte zu erfinden, sondern die
alten Werte treu zu bewahren. So liegt in dem Klassizismus, wie er
kommen wird, ein gut Teil Resignation, der schmerzlichsten Resi-
gnation, nämlich des Einsehens eigener Unzulänglichkeit. Doch das
Weltgeschehen fragt nicht nach unserer Freude und unserem Leid,
und weise sein heißt: seine eigenen Grenzen erkennen und seine Kräfte
nicht am Unmöglichen erschöpfen.
 
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