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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 18.1925

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376 BESPRECHUNGEN.

Doch schon im Begriff der Tugenden selbst findet sich die Wendung vom Ethi-
schen ins Ästhetische vorgebaut. Denn die Tugenden sind ursprünglich Mittel zu
dem Zwecke, die Weisungen Gottes zu erfüllen, um der Menschen und des eigenen
Heils willen. Nun wird aber im Laufe der Zeit — das ist bei Müller recht gut zu
beobachten — der Besitz der Tugenden aus einem Mittel mehr und mehr zum Selbst-
zweck. Sie dienen nicht mehr weitergreifenden Absichten, sondern sie schmücken
das gegenwärtige Dasein des Tugendhaften. Und tatsächlich: überall, wo das Sub-
jekt, die Seele, sich nicht mehr als Mittel fühlt, sondern als summum bonum statuiert,
da vollzieht sich die Wendung ins Ästhetische. Die Ästhetisierung der Tugend ist
eine Parallelerscheinung zur subjektiven Wendung auf das Ich hin, sei diese vom
religiösen Glauben oder von erkenntnistheoretischen Erwägungen diktiert. Beispiels-
weise war der gute Wille vor Kant nur ein Mittel zur Verwirklichung des Guten;
bei Kant wird er zum eigentlichen Gut, das heißt selbstzwecklich. Der Mensch des
guten Willens, der den kategorischen Imperativ der Pflicht erfüllt, ist stets bereit,
fertig, vollkommen, er wird dies nicht erst durch den immer fraglichen Erfolg. Des-
halb ist er jederzeit ein erhebender Anblick sowohl für das eigene Gewissen, das
unser Bild für uns selbst entwirft, als für die Augen der Menschen. In dieser Schluß-
folgerung, die Kant nahe liegt, tritt auch das ästhetische Moment der Schau, des Dar-
stellens und Gesehenwerdens deutlich zutage!

Wie die Tugenden als Gruppe, so haben nun auch die einzelnen Tugenden ein
ausgesprochenes Verhältnis zum Ästhetischen. Daß die Tugend der Weisheit sich
mit der ästhetischen Kontemplation berührt, ist oft bemerkt worden und war auch
Augustin schon deutlich, wie unser Autor nachweist. — In der Tugend der Mäßi-
gung und Gerechtigkeit wirkt das edle Maß, das Proportionale der Schönheit imma-
nent. In der Tugend der Tapferkeit tritt uns das ästhetische Phänomen des Erha-
benen auf seinem Gipfel entgegen. »Held«, so nennen wir nicht ohne Grund sowohl
den Tapferen im ethischen Bereich der Wirklichkeit wie die Hauptfigur im ästhe-
tischen Bereich der Tragödie!

Über das Verhältnis zwischen dem Schönen und dem Guten, das sich im Thema
der mittelalterlichen Seelenschönheit beständig aufrollt, wäre nun noch festzustellen:
das Schöne ist das ganze Mittelalter hindurch die konkrete Repräsentation des Guten.
Müller zeigt, daß die Heiligen nach mittelalterlicher Auffassung ohne weiteres, weil
sie heilig sind, auch schon schön sind. Das Mittelalter ist eben eine eminent ästhe-
tische Periode. Nicht wirtschaftliche Vorstellungen regieren die Zeit, sondern ästhe-
tisch beschwingende, wie die Idee des römischen Imperiums. Weil sie ästhetisch
fundiert sind, drängen die mittelalterlichen Ideen auch zu glanzvoller Darstellung.
Das Mittelalter ist beherrscht von dem Zuge zu künstlerischer Konkretisierung alles
Abstrakten in Symbol und Repräsentation. Dabei dient der Glanz, das ästhetische
Phänomen, immerfort der Macht, dem Ethischen, als großartige Edelreklame; und
die Macht wiederum dem Glänze als Grundlage. Ethik und Ästhetik sind im öffent-
lichen Leben noch ungeschieden. So treten denn die Heiligen auch als die Schönen
in die Darstellung. Und werben durch ihre Schönheit wiederum für die Güter des
Heils. Das ästhetische Moment wird also ungemein betont, aber nicht um seiner selber
willen, sondern als bestes Mittel für das ethisch Wünschenswerte. Beziehungen, die
von hier aus bis zu Schillers »Schöner Seele« herüberführen, deutet auch Müller noch
an, der für Gedankengänge, wie die vorstehend entwickelten, durch sein lehrreiches
Material teils die Unterlagen, teils die Anregungen gibt.

Berlin. Hugo Marcus.
 
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