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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 18.1925

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https://doi.org/10.11588/diglit.3820#0534

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BESPRECHUNGEN. 531

andersetzung mit Reuschles (übrigens noch heute lesenswerter) Schrift »Philosophie
und Naturwissenschaft« (Kr. Gänge IV, S. 489—534) beweist es. »Man kann wirk-
lich sagen, das Problem des wahren Verhältnisses zwischen Philosophie und Natur-
wissenschaft springe gerade in der Ästhetik mit seiner ganzen unendlichen Schwierig-
keit hervor.« »Darin spricht sich vor allem die Schwierigkeit der Frage aus: ob
deduktives, ob induktives Verfahren, oder eine Verbindung beider und welche? Und
hinter dieser Frage steht natürlich die tiefe und allgemeine Frage der Stellung der
Ästhetik zu den induktiven Wissenschaften, zur Physik, zur Physiologie, d. h. vor
allem zu der Lehre von den Sinnenfunktionen, und zur Psychologie in ihrem jetzigen,
durch den Einfluß der empirischen und exakten Forschung völlig veränderten Stande.«
So schrieb Vischer im Jahre 1874 in seiner Selbstbiographie (Kr. Gänge VI, S. 501).
Aber — in derselben Darstellung seines Lebensganges finden sich auch folgende
Sätze: »Niemals so habe ich mich von Hegel befreit, daß ich ihn nun einfach für
abgetan hielte. Abgetan ist die logische Konstruktion des Weltalls, abgetan die
Dialektik, die ihre Bewegungen für Weltbewegungen hält und aus dem Begriffe
die Natur herausspinnt; nur daß die Philosophie an die Stelle dieses als falsch er-
kannten Herausspinnens noch nichts Besseres zu setzen vermocht hat.« »r le-
straft sich in den jetzigen Kämpfen zwischen Naturwissenschaft und Philosophie
schwer, daß man meint, Hegel zum alten Eisen werfen zu dürfen; man behandelt
Gegensätze, die im innersten Grunde der Dinge keine absoluten sein können, als
absolute, wie wenn nie ein Hegel das abstrakte Entweder Oder durch sein Weder
Noch, sein Sowohl Alsauch widerlegt hätte« (ebenda, S. 473).

Vischer ist also — ähnlich wie auf logischem und psychologischem Gebiete
Joh. Ed. Erdmann, auf historischem Gebiete Kuno Fischer, auf religionsphilosophi-
schem Gebiete A. E. Biedermann — ein getreuer Bewahrer des klassischen Ideen-
gutes und ein ebenso vorsichtiger wie umsichtiger Neuerer zugleich. Unter
diesem doppelten Gesichtspunkte muß die Selbstkritik seiner Ästhetik gewürdigt
werden: dann verschwindet all das Merkwürdige, das darin zu liegen scheint, daß
hier der größte Systematiker, der auf ästhetischem Gebiete je gewesen ist, die
schneidende Schärfe seiner Kritik gegen sich selber kehrt und Umstellungen und
Auflösungen an seinem Werke vornimmt. Es stellt sich vielmehr deutlich heraus,
daß jene Selbstkritik lediglich eine neue Phase von Vischers ästhetischem Denken
darstellt: eine bedeutsame Bewegung seiner Gedankenmasse, aber weder die erste
noch die letzte. Ihr Ergebnis ist nicht sowohl ein negatives, ein abbauendes, als
ein positives, ein aufbauendes. Und in hervorragendem Maße gilt der Satz von ihr,
mit dem Hegel seine Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie schloß:
»Jede Stufe hat im wahren Systeme ihre eigene Form. Nichts ist verloren, alle
Prinzipien sind erhalten.«

Nun ist an der Neuausgabe der Kritischen Gänge besonders zu rühmen, daß
sie der Selbstkritik auch äußerlich ihre Isoliertheit nimmt, daß sie Vischers Entwick-
lungsgang von der Erstlingsschrift »Über das Erhabene und Komische« (1837) an
bis zu der inhaltsschweren Abhandlung seines Greisenalters »Das Symbol« (1887)
in seiner inneren Einheitlichkeit und äußeren Vielschichtigkeit klar erkennen läßt.

In der erstgenannten Abhandlung gibt sich Vischer als überzeugten Hegelianer.
»Sie schließt sich ganz an die Ideen der neueren Philosophie an und setzt bei dem
Leser den Standpunkt derselben als bekannt voraus«, heißt es in der Einleitung
(S. 14). Dies ist auch möglich, ohne daß dem Gegenstand, um den es sich handelt,
Gewalt angetan zu werden braucht; denn es besteht eine geheime Wahlverwandt-
schaft zwischen dem Künstlerisch-Erhabenen und Tragischen und dem Geiste des
Hegeischen Systemes. »Hegel steht recht auf der reinen Höhe des Tragischen: die
 
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