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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 8.1913

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Laurila, Kaarle S.: Zur Lehre von den ästhetischen Modifikationen
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https://doi.org/10.11588/diglit.3587#0039
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ZUR LEHRE VON DEN ÄSTHETISCHEN MODIFIKATIONEN. 35

menschliche Mittelmaß »fühlbar überragt«. Grillparzer hat sie von
aller Großzügigkeit und von allem Heroismus einer mythologischen Per-
sönlichkeit ferngehalten und sie in einem gewissen Sinne »bürgerlich«
und beinahe »wienerisch« gemacht, um sie uns menschlich näher
zu bringen. Allerdings verliebt sich Hero heftig, und ihr Schmerz
über den Verlust des Geliebten ist untröstlich; hierin müßte also Heros
Größe liegen, falls sie überhaupt existiert. Aber wenn man alle jungen
Mädchen »menschlich groß« nennen wollte, die dazu imstande sind,
dann würden wir, fürchte ich, allzuviel »große Menschen« bekommen,
und »menschliche Größe« würde am Ende nichts mehr bedeuten. Von
Grillparzers Hero lenkt sich der Gedanke in diesem Zusammenhang
ungesucht auf das Gretchen in Goethes »Faust«. Daß ihr Schicksal
tragisch ist, steht über jedem Zweifel. Aber auch bei ihr ist wohl
nicht die Größe der Grund der Tragik, denn weder an Willensstärke
oder Intelligenz noch an Tiefe und Reichtum des Gemütslebens
überragt Gretchen fühlbar das menschliche Mittelmaß. Ihr Schicksal
macht deshalb den tragischen Eindruck, weil wir uns sagen müssen:
es ist doch furchtbar und geradezu niederschmetternd, daß ein so
ahnungslos unschuldvolles zartes und kindlich hilfloses Wesen die
Beute des Bösen werden und daran zugrunde gehen soll.

Da hier nun gerade von Frauencharakteren die Rede ist, nenne ich
noch einen dritten, der meiner Ansicht nach unbedingt tragisch ist
ohne menschlich groß zu sein. Das ist Merete im Roman »Dyre
Rein« von Jonas Lie. Wie die Charaktere Jonas Lies überhaupt, ist
auch Merete durchaus in den Maßverhältnissen der gewöhnlichen
Wirklichkeit geschildert. Ich wüßte wenigstens nicht zu sagen, worin
sie das menschliche Mittelmaß fühlbar überragte. Sie ist zwar kein
oberflächliches, gehaltloses Mädchen, aber auch nicht besonders tief,
begabt oder sonst hervorragend. Aber am Vorabend der Hochzeit
verliert sie ihren Dyre Rein durch einen sonderbaren Unglücksfall,
und das ist es eben, was ihr Schicksal tragisch macht. Diesen Fall
verallgemeinernd würde ich sagen, daß nach meinem Empfinden über-
haupt das Schicksal einer in der Jugendblüte der Glückserwartungen
stehenden Braut, die den Geliebten gerade am Vorabend der Hochzeit
verliert, tragisch ist, und ich vermute, es erscheint auch anderen so.
Diese Braut braucht nach keiner Seite hin »menschlich groß« zu sein;
sie muß nur imstande sein (oder wenigstens den Eindruck machen,
als wäre sie imstande) Glück zu genießen und einen ihr Lebensglück
vernichtenden Schicksalsschlag als etwas Schweres zu empfinden. Die
nähere Beschaffenheit der vom Schicksal getroffenen Person bleibt im
Grunde Nebensache. Die tragische Wirkung beruht hier in erster Linie
offenbar darauf, daß die Person ihrem Glücke so nahe war. Sie
 
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