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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 8.1913

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https://doi.org/10.11588/diglit.3587#0103
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BESPRECHUNGEN. gg

imagination aus der motorischen Anlage habe ich Bedenken, sie scheint mir mehr
von der affektiven Veranlagung abzuhängen. Man findet dieses Einfühlungsbedürfnis
besonders ausgeprägt bei der weiblichen Kunstanschauung; Frauen aber sind zwar
affektiver, dagegen, was mehrfach bestätigt worden ist, minder motorisch als
Männer.

Die Verstandestätigkeit beim ästhetischen Genuß liefert erstlich ästhetische
Hilfsurteile, die notwendig sind, damit das Werk verstanden wird und genossen
werden kann. Dahin gehören Urteile über Idee und Gehalt, über die Kausalität
im Drama, über die beabsichtigte Farbenzusammenstellung im Bilde. Der große
Wert dieser Urteilstätigkeit besteht darin, daß erst durch sie eine Übertragung des
Kunstverständnisses, z.B. das künstlerische Sehenlehren, möglich wird. Den »dis-
kursiven« Typus, der durch das Dominieren dieser Urteilstätigkeit entsteht, finden
wir deutlich repräsentiert durch Hanslick, für den das Musikhören in einem ana-
lysierenden Verfolgen der Absichten des Komponisten bestand. — Daneben kon-
statieren wir an sich kunstfremde, rein theoretische Urteile über historische und
kulturelle Zusammenhänge, durch deren schwache Lustgefühle sich der »Alexan-
driner« nach Art mancher Goethephilologen den echten Kunstgenuß zu ersetzen
sucht, und endlich ästhetische Werturteile, deren stark suggestiven Einfluß etwa
die Sterne im Bädecker illustrieren.

Eine weitere, für die Art des ästhetischen Genusses wichtige Typenbildung er-
gibt sich aus den Modifikationen des Ichbewußtseins. Der »Extatiker«, dessen
eigentliches Bereich die Musik ist, vergißt sein Ich völlig und genießt im Grunde
nicht mehr das Kunstwerk, das ihm in einem allgemeinen Gefühlschaos verschwimmt,
sondern eben seine Selbstentäußerung. Der »Mitspieler« dagegen hat eine Ich-
vorstellung, die aber mit fremden Persönlichkeiten identifiziert wird; er »rast mit
Othello, zittert mit Desdemona«. Der »Zuschauer« endlich, dessen Wesensart
von Hugo von Hofmannsthal charakterisiert worden ist, behält seine eigentliche
Ichvorstellung, stellt sich dem Kunstwerk kritisch, nachdenkend, urteilend gegen-
über und vergißt keinen Moment, d?ß er im Parkett sitzt und ein Produkt mensch-
lichen Schaffens beobachtet. Der »Mitspieler« soll die primitivste, niedrigst stehende,
der »Zuschauer« die höchstentwickelte Form ästhetischer Auffassung darstellen.
Diese Ansicht hängt zusammen mit der Behauptung, daß nur die Qualität der Ge-
fühle, nicht aber ihre Intensität, nicht das Maß des Ergriffenseins und Erschüttert-
werdens bei der ästhetischen Bewertung mitzusprechen habe. Wird diese Über-
zeugung, die etwas nach dem müden, überfeinerten Ästhetentum der jungwiene-
rischen Schule schmeckt, ohne Widerspruch bleiben? Dürfen wir wirklich die
spätere, reifere Entwicklungsform unter allen Umständen für die höhere erklären,
auch dann, wenn sie greisenhafte Züge aufweist?

Die vermittelnde und psychologisierende Ästhetik, von der hier nur eine Reihe
besonders kennzeichnender Belege geboten werden konnte, scheint mir ein not-
wendiges Ergebnis der heutigen Kulturlage zu sein. Solange die Menschheit
langsam lebte und nur alle dreißig Jahre eine neue Kunstrichtung, eine neue ästhe-
tische Theorie aufkam, konnte wirklich jede junge Generation in der Gewißheit
schwelgen, daß erst sie den Stein der Weisen gefunden habe und mit ihr die
Geschichte neu anfange. Seit aber die turbulente Entwicklung des technischen
Zeitalters die neuen Erscheinungen wie wechselnde Wolken einherjagt, ist dieser
naive Fanatismus unmöglich geworden, denn allzu viele unfehlbare Päpste neben-
einander kann selbst das gläubigste Gemüt nicht vertragen. Da mußte denn die
lösende Formel gefunden werden, die die relative Geltung der widerstreitenden
Richtungen, ihre Bedingtheit durch psychologische Typen erkannte; und sie mußte
 
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