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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 8.1913

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Müller-Freienfels, Richard: Über die Formen der dramatischen und epischen Dichtung
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https://doi.org/10.11588/diglit.3587#0208
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204 RICHARD MÜLLER-FREIENFELS.

Huysmanns, Peter Altenberg usw. noch nicht herausgebildet. Auch
diese »Gedichte in Prosa« erscheinen mir als eigentliche Produkte für
den Druck, nicht für das Lautlesen, wie das echte Lyrikon, denn in
der Regel versagen sie beim Vorlesen, da sie einige der stärksten
Mittel der Wirkung der Verskunst nicht besitzen.

5.

Als eine der Hauptforderungen an den Epiker und damit als ein
Hauptcharakteristikum seiner Kunst hat man seine Objektivität auf-
gestellt. Der Ausdruck ist, wie R. Lehmann x) hervorhebt, nicht ganz
eindeutig, indem darin einmal die positive Forderung gegenständ-
licher Anschaulichkeit, zweitens aber auch die mehr negative,
das Zurücktreten der Subjektivität des Dichters liegt. Meistens
ist jedoch nur die zweite Bedeutung damit gemeint, und nur mit
dieser wollen wir uns hier beschäftigen. Lehmann schlägt dafür, in
Anlehnung an W.V.Humboldts Ausdruck Unparteilichkeit, den
Terminus Unpersönlichkeit vor, der mir indes eine Unmöglichkeit an-
zudeuten scheint, warum ich also den Humboldtschen Ausdruck vor-
ziehe. Denn vom Dichter Unpersönlichkeit verlangen, heißt über-
haupt seinen Charakter, seine künstlerische Note aufheben, und damit
das Wesen der Kunst, das stets eine Verschmelzung von Subjektivem
und Objektivem darstellt, selber zerstören. Es handelt sich nur um
ein störendes Eingreifen der Persönlichkeit, das wir als Parteilich-
keit bezeichnen.

Mir scheint, daß die ganze Forderung der Objektivität vom Epiker
dadurch entstanden ist, daß man seine Kunst gegen die des Lyrikers
abgrenzen wollte. Aber wenn diese auch reine, oder fast reine Sub-
jektivität ist, so wäre es doch ein logischer Trugschluß, wollte man,
bloß um einen klaren Gegensatz zu haben, die Kunst des Epikers als
reine Objektivität betrachten. Das wäre ganz falsch und hieße in
den Fehler derer verfallen, die in dem Satze »Kunst ist Natur, durch
ein Temperament gesehen« die zweite Hälfte weglassen. Es besteht
in dieser Hinsicht zwischen Epiker (übrigens auch Dramatiker) und
Lyriker nur ein Gradunterschied, kein Wesensunterschied; in jeder
Kunst steckt ein subjektives Element, sonst wäre sie eben keine Kunst
mehr, ein Satz, der wohl einer eingehenden Begründung nicht mehr
bedarf.

»Unpersönlichkeit« also wird man vom Epiker billigerweise nicht
verlangen dürfen. Im Gegenteil, man wird es gerade anerkennen, je
origineller und bedeutender seine Persönlichkeit sich in der Auswahl

!) Lehmann, Poetik S. 145 f.
 
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