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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 8.1913

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Müller-Freienfels, Richard: Über die Formen der dramatischen und epischen Dichtung
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https://doi.org/10.11588/diglit.3587#0211
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ÜBER DIE FORMEN DER DRAMATISCHEN UND EPISCHEN DICHTUNG. 207

andere kennt der Ästhet nicht) die Reflexion von selbst daraus her-
vorgeht, wie der Duft aus einer Blume, und dann ist sie überflüssig;
oder aber die Reflexion muß wirklich die dargestellte Handlung, den
vorgeführten Charakter erst erklären, und dann ist die Darstellung un-
vollständig und nicht objektiv«1). Wir haben ja neuerdings z. B. in
Bourgets Romanen typische Fälle der Art, wo der Autor seine Per-
sonen mit psychologisch-theoretischen Randbemerkungen versieht; das
wird gewiß niemand loben wollen. Wohl aber gibt es auch Werke,
wo solche Reflexionen selber geschickt angebracht sind, wo sie den
einzelnen Fall zum Typischen erheben und ihm damit viel mehr Be-
deutsamkeit verleihen. Und wie es uns oben als natürlich erschien,
daß ein Erzähler für seine Personen fühlt, so kann es uns genau so
natürlich erscheinen, daß er über sie denkt und seine Gedanken aus-
spricht. Die Reflexion wäre dann eine Art Verzierung, die noch einen
besonderen Reiz für denkende Leser hinzufügen kann. Und wie wir
in der dekorativen Kunst heute wieder von jenem pedantischen Puris-
mus abgekommen sind, der jeden Schmuck, jede Ornamentik, die
nicht aus der Struktur des Werkes sich ergibt, verwirft, so wäre es
auch pedantisch, in der Erzählungskunst vom Autor nur die reine
Stofflieferung zu verlangen. Wenn seine Reflexionen nur interessant
geistvoll sind, wird man sie sich gern gefallen lassen. Wer würde
Goethe darob grollen, weil er im Wilhelm Meister noch anderes ge-
geben hat, als die äußeren Schicksale Wilhelm Meisters und seiner
verschiedenen Geliebten? Und man kann ernsthaft zweifeln, was das
reiner Künstlerische ist: daß der Autor so Reflexion und Erzählung
sondert, oder daß, wie das sonst gern geschieht, man den Dialog der
Personen mit subjektiven Reflexionen über sich und die übrige Welt
vollstopft, wie z. B. Hebbel auf dramatischem Gebiete seine Personen
seine eigene Meinung über diese Personen äußern läßt. Mir scheint,
auch in bezug auf Zwischenreden, Reflexionen usw. gibt es nur das
eine ästhetische Gesetz, das Moliere formuliert hat: la seule loi pour
Vartiste (fest de plaire.

Dabei möchte ich dann noch einige Fälle namhaft machen, wo
gerade die subjektive Parteilichkeit oder die Zwischenreden des Er-
zählers außerordentlich wirksam sind. So können Zwischenbemer-
kungen, die aus dem Wissen des Erzählers nur Späteres hervorheben,
die Spannung außerordentlich steigern, sie können dazu dienen, der
dargestellten Handlung Akzente zu geben, sie können humoristische
oder ironische Lichter aufsetzen, kurz sie können eine unbegrenzte
Mannigfaltigkeit von Wirkungen erzielen. Und aller dieser Möglich-

') Vermischte Schriften Bd. I, S. 92.
 
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