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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 8.1913

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Tenner, Julius: Über Versmelodie, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.3587#0263
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ÜBER VERSMELODIE. 259

schreiten, aus denen die wohlbekannten Reize musikalischer Wirkung
der Klangmassen des gesprochenen Wortes stammen, mit anderen
Worten, zur Bestimmung des wesentlichen musikalischen
Hauptelementes der Sprachmusik.

2.

Die Grundsätze des Systems der modernen europäischen Ton-
musik als bekannt vorausgesetzt, wollen wir zunächst die wichtigsten
Merkmale ins Auge fassen, durch welche sich die moderne Sprach-
musik von jener unterscheidet. Die Sprachmusik ist in erster Linie
von ihrem natürlichen und einzigartigen Musikinstrument abhängig:
von der menschlichen Stimme. Die Spannweite der menschlichen
Sprechstimme beträgt beiläufig eine Oktave1). Aber im Bereiche
dieser einen Oktave verfügt die Sprechstimme nicht nur über die
zwölf Intervalle der chromatischen Tonleiter der Musik, sondern über
alle in jenen Grenzen möglichen, in der Natur vorkommenden
Zwischenintervalle, ohne jede Einschränkung, demnach über eine
unendliche Anzahl von Tonhöhen, die in allmählichen Übergängen
ohne Absatz unmerklich ineinanderfließen. Diesen Veränderungen
der Tonhöhe fehlt jedes Maß, mittels dessen die späteren Laute mit
den früheren verglichen, die Veränderung übersehen werden könnte.
Von diesen unendlich vielen, wie die Farben des Sonnenspektrums,
wie Licht in Schatten unausgesetzt ineinander übergehenden Ton-
höhengraden werden auch nicht, wie in der Musik, gewisse fest
bestimmte Stufen ausgeschieden, in denen sich die Melodie fortbewegt,
mit anderen Worten: Die Sprachmusik kennt keine Ton-
leiter. Die Tonmusik bedient sich in der Regel bestimmter, unver-
änderlich fester Tonhöhen 2). Und zwar gilt dieses nicht nur von der
Instrumentalmusik, sondern auch vom Gesang, den ja mit Sprach-
musik sowohl das musikalische Instrument (die menschliche Stimme)
als auch das gemeinsame Tonmaterial (die Sprachsilben) verbindet.
Das Gegenteil ist beim Sprechen der Fall. Sweet3) bemerkt, daß die
Stimme während des Gesanges ohne Wechsel der Tonhöhe auf jeder
Note verweile, um dann raschestens auf die folgende Note überzu-
springen, so daß der verbindende »Gleitton« nicht wahrgenommen
wird, wenn auch keine tatsächliche Tonunterbrechung stattfindet.
Beim Sprechen dagegen verweilt die Stimme nur gelegentlich auf

1) Die der Singstimme mißt zwei bis drei Oktaven.

2) Eine Ausnahme bilden nur die schleifenden und gleitenden Töne, die zu-
nächst in den »Sprechgesang«, dann aber auch in die moderne, expressive Instru-
mentalmusik herübergenommen wurden.

3) »A Handbook of Phonetics*. Oxford 1877, S. 93 f.
 
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