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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 8.1913

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https://doi.org/10.11588/diglit.3587#0306
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302 BESPRECHUNGEN.

jener beiden Vorbedingungen, sondern die neue Schöpfung, die reine Erzeugung...
Und wie bringt die Kunst diese Einheit zustande? Darin eben ist die Plastik so
instruktiv, sie erzeugt diese Einheit an der Gestalt des Menschen. Die Gestalt ist nicht
nur sein Leib, so wenig sie schlechthin seine Seele ist. Die Gestalt ist die Ein-
heit von Seele und Leib. So bekundet sich das reine Gefühl als Erzeugung.«
Und später: »die Gestaltung ist Seelengebung«. (I, 191 ff.)

Von hier aus sind, auch ohne das Zurückgreifen auf das innere Sprechen und
die Poesie der Wortgefühle, die folgenden bedeutungsvollen Sätze völlig verständ-
lich, die zugleich für das bisher Angeführte eine nicht unwesentliche Ergänzung
enthalten. »Man glaubt das geistige, das sittliche Wesen des Menschen in dem
Bilde, in seiner Sichtbarkeit wahrzunehmen; aber nimmermehr kann man es sehen;
nimmermehr kann es sichtbar werden. Dieser mißverständliche Ausdruck darf nicht
vermieden werden. Das Problem der Sichtbarkeit ist vielmehr das
Problem der Fühlbarkeit; nicht allein der rezeptiven, sondern nicht minder
auch der schöpferischen. Es ist nicht richtig, daß der Künstler nur zu sehen hätte.
Es ist keine triviale Redensart, daß er auch zu fühlen, daß er schaffend zu fühlen,
fühlend zu schaffen hat.« (I, 355.) »Verinnerlichung bedeutet Einheit von Seele und
Leib. Wie die Seele nicht ohne den Leib apperzipiert werden kann, so besteht
der Leib nicht nur für die Poesie, außer sofern die Seele sich seiner bemächtigt.«
(I, 384.) Aber: »Die Seele darf nicht schon vor der Einheit fertig und gegeben
sein. Es wird mithin nicht allein das Äußere durch die Poesie verinnerlicht, son-
dern es wird am Äußern zugleich das Innere erzeugt. Die Verinner-
lichung bedeutet die Erzeugung des Innern, der ästhetischen Seele, des Selbst-
gefühls.« (1, 385.) Das letzte Wort gibt zugleich wieder einen bedeutsamen Hinweis
auf die Cohensche Psychologie, in der die Möglichkeit der ästhetischen Einstellung
zur Grundlage für die Entfaltung des Selbstgefühls wird. Doch würde es zu weit
führen, hier auf diesen Ideenkreis einzugehen.

Die Grundlinien des Werkes habe ich zu skizzieren versucht. Über die Fähig-
keit Cohens, überall von den abstrakten Problemen der philosophischen Systematik
den kürzesten Weg zu den großen in immer neuen Formen aktuell werdenden
Fragen der Kunstgeschichte zu finden, kann nur die eigene eingehende Lektüre
orientieren. Besonders der zweite Band, der »die Bestätigung der systematischen
Ästhetik in den Arten der Kunst und ihrer Geschichte« als Untertitel führt, ist reich
an solchen Stellen, die zugleich die lebendige Beziehung des Verfassers zu allen
großen Problemen der Kunst deutlich machen. Ob er der Bedeutung des »kleinsten
Motivs« für die Kompositionsweise Beethovens nachgeht (II, 192), ob er Adolf
Hildebrands Problem der Form diskutiert (II, 247 ff., 235 ff.) oder über den Einfluß
Millets auf Leibl, Israels und Liebermann spricht (II, 412 f.), stets spüren wir, neben
der überlegenen Sicherheit des Systematikers, die Hingebungsfähigkeit und die Un-
mittelbarkeit des Empfindens, die in Dingen der Kunst das Zeichen und den Frei-
brief des berufenen Kritikers bilden.

Einen Satz aus dem Schlußwort des Ganzen möchte ich noch anführen, weil er
für die philosophische Gesinnung, die dieser »rationalistischen« Ästhetik zugrunde
liegt, den zusammenfassenden Ausdruck enthält: »Daß die wissenschaftliche Vernunft
des Menschengeistes Identität hat, das kann nur der Unverstand und der Wahn-
witz bezweifeln. Daß die sittliche Vernunft des Menschengeistes Einheitlichkeit und
Einförmigkeit hat, das kann nur Mephisto zweifelhaft machen. Aber daß auch das
Genie in allen Künsten, bei allen Völkern, in allen Zeitaltern immer nur innerhalb
desselben Gleises seine Wunderkreise beschreiben kann, und daß das Subjektivste
im Menschengeiste, im Kunstgefühle der Menschen, der Völker in allen Himmel-
 
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