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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 8.1913

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https://doi.org/10.11588/diglit.3587#0314
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310 BESPRECHUNGEN.

eigenes Fach, die romanische Philologie, betrifft. Zwar wird der Name Goethes
(S. 28 und öfter) mit Ehrfurcht genannt — aber es klingt ein wenig, wie wenn
wir in Deutschland Dante nennen, und erinnert fast an Aretinos Grabschrift: von
Gott sagte er nichts Übles, weil er ihn nicht kannte. Bovet stellt zwar eine evo-
lutionistische Skizze der deutschen wie der griechischen und spanischen Literatur
in Aussicht; aber vor allem der Exkurs über die Tragödie (S. 280 f.) —an sich sehr
gescheit — schließt das deutsche Drama, ja das germanische außer Ibsen so völlig
aus der Betrachtung aus, wie es bei näherer Bekanntschaft mit (gerade für die
Einheitenfrage!) so wichtigen Persönlichkeiten wie Kleist und — Goethe kaum
möglich wäre.

Wir geben aber zu, daß ein Romane auch an seine Methode andere Forde-
rungen stellen mag, als wir von dem Schüler berühmter Meister der Methode
schlechtweg wie J. Bedier und H. Morf — denen das Buch mit sympathischen Worten
zugeeignet ist — vielleicht erwarten werden. Ohne deshalb einen längeren discours
de la methode zu unternehmen, stellen wir uns auf den Boden seiner Vor-
aussetzungen.

Bovet ist, wie so viele unter uns, von dem Gefühl gepeinigt worden, als herrsche
in der Entwicklung der »Riese Zufall«; er ist insbesondere noch ein romanischer
Optimist voll leidenschaftlichen und wohltuenden Glaubens an den allgemeinen
Fortschritt der Menschheit. In einem großen Rhythmus (S. 209) sieht er sie der
Freiheit entgegenziehen (S. 113 f. und öfter), von Frankreich geführt; wobei wiederum
kein Geschichtsphilosoph sein Leiter ist — Kant und Hegel erklärt er ausdrücklich
nie gelesen zu haben, an Lessing und Herder scheint er auch nicht zu denken,
und sogar die naheliegende Bezugnahme auf G. B. Vico fehlt — sondern ein
Dichter wie Sully Prudhomme, der uns trotz einzelner Schönheiten und des ersten
Nobelpreises nur ein verkürzter Tiedge mit verändertem Vorzeichen scheinen will;
was ja aber wieder Nebensache ist. Stark hat aber wohl auch noch ce grand
Guyau (S. 128) eingewirkt — den wir wohl auch nicht »groß« nennen würden —
und vor allem Taine, mit dem Bovet (S. 194 f.) sich klar auseinandersetzt: er bringt
in dessen Formel eine starke Betonung des individu-cause, mit vollem Recht — aber
mit der Wirkung, daß Taines Formel eigentlich aufgehoben wird. Von diesen Theo-
retikern übernimmt er die Voraussetzung eines unmittelbaren Zusammenhangs zwischen
Leben und Literatur (S. 187), der gar nicht weiter diskutiert wird und den aller-
dings das Hauptkapitel auch im Einzelnen nachzuweisen sucht. Aber so allgemein
ausgesprochen, bleibt es ein gefährliches Dogma, que les rapports de la vie et de la
litterature sont constants. Ich bestreite es entschieden. Die literarischen Formen
und Traditionen haben ihr eigenes Leben, wie Bovet wohl auch gelegentlich selbst
betont; und es gibt Episoden, in denen die Literatur in fast völliger Lebensfremd-
heit ganz von dieser Tradition zehrt. Man hat z. B. mit Recht gefragt, wo denn
in der deutschen (oder französischen) Literatur um die Mitte des 19. Jahrhunderts
jener mächtige industrielle Aufschwung zu spüren sei, der das nationale Leben
umgestaltet hat; und wie schwach ist selbst bei Shakespeare der Geist der neuen
welterobernden englischen Politik zu spüren! Bovet, der gegen den Positivismus
(S. 213, 243 und öfter) gerechte Vorwürfe erhebt, neigt doch selbst dazu, allzusehr
zu vereinfachen und das Sonderleben der Form, ja auch der ästhetischen Idee zu
unterschätzen.

Von der Voraussetzung sozusagen eines physiopsychischen Parallelismus
zwischen nationalem Leben und Literatur geht Bovets ganzes Werk also aus. Wo
seine Hypothese nicht zutrifft, was er in der »Gegenprobe« für die italienische
Poesie freimütig zugibt, da sieht er die Ursache nicht in mangelndem Kontakt
 
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