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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 8.1913

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https://doi.org/10.11588/diglit.3587#0318
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314 BESPRECHUNGEN.

die Goncourt neben dem »unvollständigen« Künstler La Bruyere (S. 101) den höchsten
Begriff des französischen Stils vertraten? Wenn Bovet seine eigene Definition des
Künstlers (S. 226) anwendet, kann er wirklich zur Beseitigung der großen Apho-
ristiker gelangen? Nein, es sind nicht Gründe der Schule, die an diesen Meistern
festhalten lassen! Gibt man selbst zu — dato e non concesso (S. 247 Anm.!) —
eine einzelne Sentenz sei kein literarisches Kunstwerk — wie sollte der Versuch,
ein Charakterbild der Menschheit in solchen Sprüchen zu geben, kein künstlerischer
sein! Aber diese psychologischen Porträtisten sind eben wieder eine Gegeninstanz
gegen Bovets ■»enormite«. (S. 72), die Epoche des Corneille Racine Moliere für nicht
dramatisch zu erklären. In der Schilderung des Menschen wurzelt alles Drama,
wie in der der Handlung alle Epik, wie in der der Zustände alle Lyrik; drama-
tische Vorarbeit, ja dramatische Leistung ist dies gigantische Zwiegespräch des
Menschen mit sich selbst, das unfertig aber großartig als Pascals »Pensees« vor
uns liegt — die französische Divina Commedia; dramatisch durch und durch sind
diese reparties auf unausgesprochene, weil überall ausgesprochene Sentenzen, die
der geistreichste aller Herzöge uns hinterlassen hat — der kondensierte »Gulliver«
der französischen Literatur.

So kommen alle vier Hilfskonstruktionen zusammen, um dem grand siecle seinen
Charakter zu nehmen, und mit ihnen allen zusammen kann Bovet nicht überzeugen.
Wenn nun aber innerhalb derjenigen Literatur, der er selbst mit unzweifelhaftem
Recht eine besondere Normalität zuspricht — eine so besondere, daß sie eigentlich
einen cas ä pari darstellt und eben nicht einen typischen Fall! —, in dem bezeich-
nendsten Augenblick die Rechnung nicht stimmt — was bleibt von der mathema-
tischen Strenge? ja was bleibt von der Regel selbst?

Doch mehr, als nun scheinen könnte. Die Ausführlichkeit meiner Besprechung
zeigt wohl schon, wie ernst ich das Buch nehme; nur daß fast alles zutrifft, was
Bovet an der dennoch gerühmten Ästhetik B. Croces (S. 235) mit Recht bekämpft:
Dogmatismus, Übertreibung, Selbstverblendung. Es geht nicht, die Fülle der
Erscheinungen in ein so einfaches Schema zu vereinigeil. Zunächst würde Bovets
Gesetz schon bedeutend gewinnen, wenn es die Gattungen strenger unterschiede.
Was fällt da nicht alles ins genre e'pique! Aber wenn Bovet (S. 79 vgl. S. 147) den
alten Satz, die Franzosen ermangelten der tete e'pique, mit Hinweis auf ihre Romane
heftig bestreitet, möchte ich umgekehrt sagen: gerade die besondere Begabung
für den Roman beweist, daß den Franzosen der Sinn für das eigentliche Epos
mindestens seit der Gegenreformation fehlt. Rabelais besaß ihn noch, so daß er
zuweilen an Ariost erinnert — den übrigens Bovet charakteristischerweise (S. 78 Anm.)
unter den neueren Epikern fortläßt, wie Milton! Eine Zerlegung auch des Begriffs
»dramatisch« würde sich gerade für Bovet empfehlen; während in dem lyrisme
wirklich vielfach die chaotische Vielfältigkeit der ältesten Poesie fortdauert. — Ferner
aber wäre vor allem dem Nebeneinander mehr Rechnung zu tragen, der Fortdauer
früherer Stufen — ein Gesichtspunkt, dessen Wichtigkeit z. B. auch die Psychologie
(wie überhaupt die Kulturgeschichte) zu lange verkannt hat. Es wäre zu bedenken,
daß zeitweilig auf demselben Boden wirklich zwei Literaturen von ganz verschie-
dener Kulturhöhe nebeneinander bestehen — in Deutschland gab es um 1800
vielleicht sogar deren drei, jede in ihrer Art vollständig und abgeschlossen!

Durch diese und ähnliche Verbesserungen — und durch eine größere Nach-
giebigkeit unbequemen Tatsachen gegenüber würde Bovets in etwas zu rascher
Begeisterung geschriebenes Werk viel an Überzeugungskraft gewonnen haben.
Aber »// faut etre cruellenient philologue« (S. 116), um es nun einfach für erledigt
zu halten, weil von mathematischer Strenge — die der Verfasser besser nie ange-
 
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