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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 8.1913

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Tenner, Julius: Über Versmelodie, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.3587#0375
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ÜBER VERSMELODIE. 371

doch über eine stattliche Reihe anderer musikalischer Elemente, die
gleichfalls dem Ausdruck der Empfindung dienen, ohne in ihrem Zu-
sammenwirken die Vollkommenheit der menschlichen Stimme für alle
Ausdrucksmöglichkeiten von Gemütsbewegungen zu erreichen. Nament-
lich kommen der Tonhöhenbewegung Ausdrucksmöglichkeiten zu, die der
Sprachmusik fehlen. Der Tonhöhenfolge der Sprache, den Verände-
rungen der Tonhöhe, die ohne Absatz, bald steigend, bald fallend,
in unmerklichen Übergängen stattfinden, fehlt nämlich jedes Maß,
mittels dessen die späteren Laute mit den früheren verglichen und die
Größe der Veränderung überschaut werden könnte. In der Instru-
mentalmusik dagegen stellt die Intervallfolge der Melodie einen Fort-
schritt in fest bestimmten Stufen dar. Die musikalischen Tonleitern
liefern einen fest eingeteilten Maßstab, an dem die Bewegung in der
Tonhöhe, ähnlich wie die Einteilung der Zeit durch den Rhythmus,
gemessen werden kann. Auf die Analogie zwischen Melodie und
Rhythmus hat schon Helmholtz aufmerksam gemacht1). Die starr ab-

J) Über die Ausdrucksfähigkeit der Melodie sagt Helmholtz (Lehre v. d. Tonempf.,
S. 386): »Das unkörperliche Material der Töne ist viel geeigneter, in jeder Art der
Bewegung auf das Feinste und Fügsamste der Absicht des Musikers zu folgen, als
irgend ein anderes noch so leichtes körperliches Material; anmutige Schnelligkeit,
schwere Langsamkeit, ruhiges Fortschreiten, wildes Springen, alle diese verschiede-
nen Charaktere der Bewegung und noch eine unzählige Menge von anderen lassen
sich in den mannigfaltigsten Schattierungen und Kombinationen durch eine Folge
von Tönen darstellen, und indem die Musik diese Arten der Bewegung ausdrückt,
gibt sie darin auch einen Ausdruck derjenigen Zustände unseres Gemütes, welche
einen solchen Charakter der Bewegung hervorzurufen imstande sind, sei es nun,
daß es sich um Bewegungen des menschlichen Körpers oder der Stimme, oder,
noch innerlicher, selbst um Bewegung der Vorstellungen im Bewußtsein handeln
möge. Jede Bewegung ist uns ein Ausdruck der Kräfte, durch welche sie hervor-
gebracht wird, und wir wissen instinktiv die treibenden Kräfte zu beurteilen, wenn
wir die von ihnen hervorgebrachte Bewegung beobachten. Dies gilt ebenso und
vielleicht noch mehr für die durch Kraftäußerungen des menschlichen Willens und
der menschlichen Triebe hervorgebrachten Bewegungen, wie für die mechanischen
Bewegungen ,der äußeren Natur. In dieser Weise kann denn die melodiöse Be-
wegung der Töne Ausdruck werden für die verschiedensten menschlichen Gemüts-
zustände, nicht für eigentliche Gefühle — darin müssen wir Hanslick anderen
Ästhetikern gegenüber Recht geben, denn es fehlt der Musik das Mittel, den Gegen-
stand des Gefühls deutlich zu bezeichnen, wenn ihr nicht die Poesie zu Hilfe
kommt, — wohl aber für die Gemütsstimmung, welche durch Gefühle hervor-
gebracht wird. Unsere Gedanken können sich schnell oder langsam bewegen, sie
können ruhelos und ziellos herumirren in ängstlicher Aufregung, oder mit Bestimmt-
heit und Energie ein festgesetztes Ziel ergreifen, sie können sich behaglich und
ohne Anstrengung in angenehmen Phantasien herumtreiben lassen, oder an eine
traurige Erinnerung gebannt, langsam und schwerfällig von der Stelle rücken in
kleinen Schritten und kraftlos. Alles dieses kann durch die melodische Bewegung
der Töne nachgeahmt und ausgedrückt werden, und es kann dadurch dem Hörer,
 
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