ÜBER VERSMELODIE.
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musikalischen Wirkung entspringen aber keineswegs dort, wo sie
Masing zu finden glaubt. Die Dichtigkeit der starkbetonten Vollreime,
die Gesetzmäßigkeit in der Anordnung und Verschlingung der Gleich-
klänge sind gewiß beachtenswerte Hilfsmittel für die sprachmusika-
lische »Instrumentierung« des Gedichtes. Sie gehören aber, ebenso
wie die Tonhöhenfolge, zu den unwesentlichen, akzidentellen Ele-
menten.
Insbesondere kommt den typischen vokalischen Lautfarben keines-
wegs ein entscheidender Einfluß auf die sprachmusikalische Wirkung
zu. Lust und Leid, Trauer und Freude, Erwartung und Erfüllung lassen
sich in der sprachmusikalischen Vertonung auf allen Vokalen zum
Ausdruck bringen, sofern sie nur mit den richtigen emotionellen Klang-
farbenvarianten ausgestattet werden. Damit wird keineswegs bestritten,
daß die bitteren Gefühle, die ernsten, schweren, düsteren Stimmungen
mittels der dunklen Vokale (u, o) und die süßen Gefühle, die lustigen,
leichten, heiteren Stimmungen mittels der hellen Vokale (e, i) besser
und vollkommener zum Ausdruck gelangen, als umgekehrt; und
darüber wußten die Dichter aller Zeiten sehr genau Bescheid. Den-
noch vermag die menschliche Stimme die extremsten Stimmungen und
Gefühle auf einem und demselben Vokal zu vertonen. Das ist um
so einleuchtender, als einer ungezählten Anzahl von Gefühlen nur
wenige gezählte Vokale gegenüberstehen. Es ist auch klar, daß sich
der im Mittelpunkt der von der dunkelsten bis zur hellsten Schattie-
rung reichenden Reihe stehende Vokal »a« am besten für die Wieder-
gabe verschiedenartiger Gefühle eignet. Wer die Düse als Kamelien-
dame gehört hat, dürfte sich an die Szene erinnern, in der Marguerite
Gautier von ihrem Geliebten verunglimpft wird. Die Künstlerin hat
da Gelegenheit, in dem Namen »Armando«, den sie zehn- bis zwanzig-
mal hintereinander wiederholt, eine ganze Skala verschiedenartigster
Gefühle zum sprachmusikalischen Ausdruck zu bringen: zuerst Ver-
wunderung und Erstaunen, dann bittere Enttäuschung und tiefstes
Seelenweh, hierauf in rascher Folge demütige Bitte, wimmerndes Flehen,
gekränkten Stolz, verhaltenen Schmerz der unschuldig Verstoßenen, an-
schwellend bis zum gellenden Aufschrei der Verzweiflung. Und alles
das auf zwei Vokalen: a und o. Dem unendlichen Reichtum von Aus-
drucksmöglichkeiten mittels der emotionellen Klangfarbenvarianten
stehen hier bloß zwei vokalische Klangfarben gegenüber, die jene
Schätze in sich aufzunehmen berufen sind.
Mag die Sprachmusik in so mancher Beziehung mit ihren ein-
facheren und ärmeren Mitteln im Wettbewerb mit der Tonmusik in
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musikalischen Wirkung entspringen aber keineswegs dort, wo sie
Masing zu finden glaubt. Die Dichtigkeit der starkbetonten Vollreime,
die Gesetzmäßigkeit in der Anordnung und Verschlingung der Gleich-
klänge sind gewiß beachtenswerte Hilfsmittel für die sprachmusika-
lische »Instrumentierung« des Gedichtes. Sie gehören aber, ebenso
wie die Tonhöhenfolge, zu den unwesentlichen, akzidentellen Ele-
menten.
Insbesondere kommt den typischen vokalischen Lautfarben keines-
wegs ein entscheidender Einfluß auf die sprachmusikalische Wirkung
zu. Lust und Leid, Trauer und Freude, Erwartung und Erfüllung lassen
sich in der sprachmusikalischen Vertonung auf allen Vokalen zum
Ausdruck bringen, sofern sie nur mit den richtigen emotionellen Klang-
farbenvarianten ausgestattet werden. Damit wird keineswegs bestritten,
daß die bitteren Gefühle, die ernsten, schweren, düsteren Stimmungen
mittels der dunklen Vokale (u, o) und die süßen Gefühle, die lustigen,
leichten, heiteren Stimmungen mittels der hellen Vokale (e, i) besser
und vollkommener zum Ausdruck gelangen, als umgekehrt; und
darüber wußten die Dichter aller Zeiten sehr genau Bescheid. Den-
noch vermag die menschliche Stimme die extremsten Stimmungen und
Gefühle auf einem und demselben Vokal zu vertonen. Das ist um
so einleuchtender, als einer ungezählten Anzahl von Gefühlen nur
wenige gezählte Vokale gegenüberstehen. Es ist auch klar, daß sich
der im Mittelpunkt der von der dunkelsten bis zur hellsten Schattie-
rung reichenden Reihe stehende Vokal »a« am besten für die Wieder-
gabe verschiedenartiger Gefühle eignet. Wer die Düse als Kamelien-
dame gehört hat, dürfte sich an die Szene erinnern, in der Marguerite
Gautier von ihrem Geliebten verunglimpft wird. Die Künstlerin hat
da Gelegenheit, in dem Namen »Armando«, den sie zehn- bis zwanzig-
mal hintereinander wiederholt, eine ganze Skala verschiedenartigster
Gefühle zum sprachmusikalischen Ausdruck zu bringen: zuerst Ver-
wunderung und Erstaunen, dann bittere Enttäuschung und tiefstes
Seelenweh, hierauf in rascher Folge demütige Bitte, wimmerndes Flehen,
gekränkten Stolz, verhaltenen Schmerz der unschuldig Verstoßenen, an-
schwellend bis zum gellenden Aufschrei der Verzweiflung. Und alles
das auf zwei Vokalen: a und o. Dem unendlichen Reichtum von Aus-
drucksmöglichkeiten mittels der emotionellen Klangfarbenvarianten
stehen hier bloß zwei vokalische Klangfarben gegenüber, die jene
Schätze in sich aufzunehmen berufen sind.
Mag die Sprachmusik in so mancher Beziehung mit ihren ein-
facheren und ärmeren Mitteln im Wettbewerb mit der Tonmusik in