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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 8.1913

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Dessoir, Max: Über das Beschreiben von Bildern
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https://doi.org/10.11588/diglit.3587#0453
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ÜBER DAS BESCHREIBEN VON BILDERN. 44g

darstellt, bei der ersten Exposition wie folgt: »Verkündigung. Maria
kniet links vom Betpult in bewegter Haltung frontal; sie blickt nach
rechts und abwärts. Von rechts naht der Engel, der im Profil kniend
gesehen ist. Oben die Erscheinung Gottvaters in Begleitung von
Engeln in Wolken. Die Szene selbst unten geht in einem Innenraum
vor sich. Italienische Radierung des Secento.« Beim Verhör ergab
sich, daß allgemeine Vorstellungen von Bildern gleichen Inhalts zur
Einläßlichkeit der Beschreibung mitgeholfen hatten: wenn der Gegen-
stand links als Betpult und die Wolkengruppe als Gottvater und die
Engel bestimmt wurde, so geschah das nicht auf Grund genauer
Wahrnehmung, sondern mit Hilfe zahlreicher älterer Erfahrungen.

Der Sinn einer ersten Beschreibung ist also keineswegs eindeutig.
Immerhin läßt sich das eine mit Bestimmtheit sagen, daß ein Bild
von Anbeginn an als ein Ganzes aufgefaßt wird, in dem
einiges Einzelne sofort zum klaren Bewußtsein kommt1).
Selbst in einem Bild wie in C. Saftlevens »Hiob, von bösen Geistern
geplagt« (s. Tafel 2), wo alles nach links zu drängen scheint, wird
trotzdem das Ganze irgendwie, wenn auch noch so falsch, aufgenommen
und geschildert.

Ich gebe als Probe einige Beschreibungen bei der ersten Exposition und streue
ein paar erläuternde Worte ein. Versuchsperson F schreibt, indem sie das Ganze
mit einem Titel gleichsam festlegt: »Kampf eines Riesen mit einem Ungeheuer.
Der Riese (die Gruppe der drei Männer wird als ein Riese mißdeutet) steht links
und kämpft mit einer Lanze gegen das Ungeheuer. Letzteres hat Flügel, die den
Charakter von Schmetterlingsflügeln haben. Die Komposition ist sehr bewegt.
17. Jahrhundert. Hintergrund dunkel, augenscheinlich Gewitterstimmung. Der
Riese hat ein teuflisches Gesicht« Versuchsperson A: »Eine phantastische Meeres-
landschaft. (Der Verfasser empfindet die Verpflichtung, mit einem Wort das Ganze
[falsch] zu charakterisieren.) In der Mitte ein Fabeltier mit großen, schmetterlings-
farbigen und gemusterten Flügeln. Links auf einem felsartigen Boden etwas er-
höht steht ein nackter Mann von heroischem Körperbau, bärtig; in der Hand hält
er eine lange Gerte. Die Szene scheint Illustration einer antiken Fabel zu sein.
Etwas unterhalb des Mannes ein weiblicher Körper, rechts Felsen und Bäume;
düsterer, mit schwarzen Wolken verhangener Himmel.« (Eine falsche, aber doch
sehr umfassende Apperzeption.) Versuchsperson C: »Stark bewegte Komposition
weicher, malerischer Darstellungsart. Rembrandtartig. Ein Kampf mit einem Teufel
oder Drachen spielt sich auf der linken Seite des Bildes ab. Es fällt mir eine in
die Höhe gestreckte, sich stark emporrichtende Figur auf, die wohl der Held des
Kampfes sein wird; den mehr am Boden befindlichen unterliegenden Teil habe ich
nicht genau in Erinnerung. Die rechte Hälfte des Bildes ist von einer wolken-
bewegten stürmischen Landschaft ausgefüllt. Im Vordergrund sind noch Figuren
oder Gestalten mit Flügeln (Drachen?).«

') Über den Unterschied zum wissenschaftlichen Auffassen und über den Zu-
sammenhang mit dem künstlerischen Schaffen habe ich mich schon in meiner
»Ästhetik« und in älteren Aufsätzen ausgesprochen.

Zcitschr. f. Ästhetik u. allg. Kunstwissenschaft. VIII. 29
 
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