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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 8.1913

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https://doi.org/10.11588/diglit.3587#0663
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656 BESPRECHUNGEN.

und in der Schöpfung des Neuen besteht« (S. 159). Das Talent ist die quantitative,
das Genie die qualitative Form des Übernormalen. An diese, vielleicht etwas zu
spitz geratenen Bestimmungen schließen sich lebensvollere Erörterungen an. Stern
warnt vor den Pathographien, die alles Schöpferische aus krankhaften Anlagen er-
klären, denn man dürfe nicht »aus der etwa festgestellten Abnormität dieser oder
jener Einzeleigenschaft ohne weiteres einen Schluß auf die Abnormität ihres Trägers
als Individuum ableiten« (S. 163), und er wendet sich gegen »die Tendenz der
Psychoanalytiker, ein irgendwie abnormes Einzelereignis des jugendlichen Sexuallebens
zu dem alles durchdringenden Fäulnisstoff der Persönlichkeit zu machen« (S. 164).

Von der Betrachtung einzelner Merkmale, die — gleich der musikalischen An-
lage — sich durch viele Einzelmenschen ausbreiten, wendet sich das Buch zum
Individualitätsproblem. Der künstlerische Darsteller einer Individualität, sei er
Dichter, Bildner oder Schauspieler, soll ein anschauliches und mitfühlbares Bild
der Persönlichkeit geben. Handelt es sich um das in der Sprache entworfene Bild
eines wirklichen Menschen, so entsteht die Biographie; wie viele und wie vielerlei
Voraussetzungen auf die Gestaltung einer Biographie einwirken können, zeigt der
Verfasser mit großer Genauigkeit. Von der Biographie ist die Psychographie
unterschieden, denn diese stützt sich nicht auf die Einheit, sondern auf die Mannig-
faltigkeit der im Einzelmenschen vorhandenen Merkmale; übrigens können ihre aus-
führlichen Schemata für den Biographen insofern Wert haben, als sie ihm wichtige
psychologische Gesichtspunkte nahelegen.

Bei den psychologischen Sprachstatistiken würdigt Stern die Arbeiten von Groos,
die zum Teil in dieser Zeitschrift erschienen sind, und wirft die Frage auf, in
welcher Richtung und in welchem Umfang die Feststellungen z. B. über Häufigkeit
der Farbenausdrücke ihren theoretischen Wert haben. Er berichtet ferner von den
Enquetes medico-psychologiques des Dr. Toulouse, die vor Jahren trotz ihrer Ge-
ringwertigkeit Aufsehen erregten, und würdigt Binets unvergleichlich feinere Zer-
gliederung von Paul Hervieus creation ütteraire. Als das umfassendste Psycho-
gramm bezeichnet Stern das von Margis über E. T. A. Hoffmann; dies Buch soll in
unserer Zeitschrift eine eigene Besprechung erhalten.

Ich bin nicht der Meinung, daß der Verfasser mit seinen Berichten stets ins
Schwarze getroffen hat, ja ich glaube sogar, daß wichtige Bestandteile einer um-
fassenden Psychognosis außerhalb des Buches geblieben sind. Eben deshalb
möchte ich rühmend hervorheben, mit welcher Sicherheit von gewissen Voraus-
setzungen aus das Gebiet abgegrenzt, an jedem Punkt das Wesentliche bezeichnet
und in das Ganze eine nützliche Ordnung gebracht wird. Wer da weiß, wie
schwer es hält, aus einer widerspruchsvollen Buntheit wissenschaftlicher Arbeiten
ein klares Bild zu gewinnen, der muß der Leistung Sterns Bewunderung zollen.

Berlin.

Max Dessoir.
 
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