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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 8.1913

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https://doi.org/10.11588/diglit.3587#0114
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110 BESPRECHUNGEN.

wenn es sagt: »Vor allem laßt genug geschehen«; wir stimmen deshalb Hamann
auch in der weiteren Meinung nicht bei, daß das Erleben überhaupt — auch
und gerade das von solchen Dingen, die uns im praktischen Sinne »eigentlich nichts
angehen« — ästhetisch sei; das erscheint uns zu weit, denn dann gehört jeder
Zeitvertreib, nicht bloß z. B. Unterhaltungsliteratur, ebenfalls dazu.

Die Anschaulichkeit umschreibt einen bestimmteren Kreis und doch ist ihr Be-
griff weit und umfassend genug, um sich zum Grundbegriff zu eignen. In die sinn-
liche Form kann fast alles eingehen, fast alles sich darin ausdrücken; und soweit
es sich sinnlich ausdrückt, es sei, was es sei, ist es ästhetisch. Wir brauchen
also durchaus nicht einseitig formalistisch zu sein wie Zimmermann oder Siebeck;
wie ja umgekehrt der Formalismus nicht sensualistisch zu sein braucht, denn es
gibt auch innere Form, und manche Form, z. B. in großen Romanen, ist so weit
ausgespannt, daß man sie nur mit erheblichem, intellektuell unterstütztem Formen-
sinn erfaßt. Über Siebeck nun hat Hamann in dem Abschnitt über »ästhetische
Theorien« (Seite 19) eine interessante Stelle. Wenn Siebeck, ausgehend von Kants
Bestimmung, daß im Ästhetischen das Interesse an der Existenz des Gegenstandes
ausfalle, die im Anblick, im unmittelbaren sinnlichen Erleben gegenwärtige Gestalt
als das eigentlich Wichtige erklärt, d. h. (bei ihm) die bloße Oberfläche, wogegen
er schon das, was als materielle oder organische Struktur dahinterliegt, ausschließt,
— so erscheint uns das freilich übertrieben und wir geben Hamann recht, wenn er
sagt: »Dann ist das Weitergehen von der Oberfläche zum Seelisch-Innerlichen ebenso
unberechtigt«. Gewiß, es treten notwendig andere Prinzipien zu dem rein sen-
sualistischen hinzu, namentlich das Ausdrucks- oder Gebärdenprinzip, das ja einzig-
artig glücklich Form und Inhalt, Äußeres und Inneres, Bewegung und seelischen
Ablauf, Zeichen und Bedeutung zusammenschmilzt. Das ästhetische Erleben ist
eben mannigfach und kompliziert und deckt und erschöpft sich nicht mit dem, was
man dabei als zentral oder als das Umfassendste oder Spezifischste bezeichnen
möchte. Aber auf manche ganz besonders eigenartigen Erlebnisse kann dennoch
Siebeck mit seiner Einseitigkeit oder, wenn das Wort erlaubt ist, Außenseitigkeit
aufmerksam machen. Es gibt nämlich ganz elementare, völlig unmittelbare sinnliche
Erlebnisse, die doch schon alles, was für das Ästhetische wesentlich ist, enthalten;
also etwa der Anblick einer einzigen schönen Farbe (wie oft behalten wir aus
einem Gemälde eine einzige Farbe jahrelang im Gedächtnis) oder das Verfolgen
einer Linie oder der intensive Genuß der Klangfarbe eines Tones; diese Wirkungen
die wir manchmal ganz »verloren« oder versunken, sozusagen »dösend« einsaugen
mögen, können geheimnisvoll stark und sehr tief sein, was man am besten mit dem
Wort »elementar« zusammenfaßt. Goethe wußte viel davon zu sagen, z. B. in der
Farbenlehre und in Äußerungen über Versmaße. Rätselhaft bleibt so etwas nur
für den, der nicht aus dem vollen organischen Leben des Menschen zu erklären
vermag, der z. B. bei der Psychologie des Lichtes nicht schon die physischen Ein-
wirkungen des Sonnenlichtes, die unseren Körper so gut wie Tiere und Pflanzen
treffen, heranzieht oder bei Darstellungen der Atmosphäre den Druck der Luft in
Rechnung zu setzen vergißt, den wir auch beim Anblick eines Bildes nachempfinden
können. Es klingen also tausend dunkle Erlebnisse an, die im einzelnen unter
der Schwelle des Bewußtseins bleiben, die wir aber in ihrer Summierung als
Stimmung spüren und die gerade dem Ästhetischen jenen gefühlsähnlichen dunklen
Charakter geben, der so oft zum Mißbrauch des Gefühlsbegriffs in der ästhetischen
Theorie geführt hat. Hier wird am allerdeutlichsten, wie das ästhetische Erlebnis
etwas fundamental anderes sein kann als alles, was wir aus dem hellen Tagesbewußt-
sein, etwa gar dem wissenschaftlichen Verstand, kennen. Es kommt vor, um noch
 
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