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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 8.1913

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Müller-Freienfels, Richard: Über die Formen der dramatischen und epischen Dichtung
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https://doi.org/10.11588/diglit.3587#0194
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190 RICHARD MÜLLER-FREIENFELS.

Was die Intelligenz anlangt, das Vorstellungs- und Denkleben, so
sind auch diese ganz abhängig von jener Steigerung des Gefühls-
lebens. Im allgemeinen fehlt jede Kritik. Nicht logische Schlüsse
leiten die Massen, sondern dasjenige, was ihre Phantasie am stärksten
anregt. Daher der ungeheure Eindruck, den alles Wunderbare auf die
Massen zu machen pflegt. Widersprüche pflegen nicht zu stören,
kurz der Verstand ist in jeder Weise geschwächt.

Nun ist gewiß das Theaterpublikum nicht so unbedingt als Masse
anzusehen wie etwa eine politische oder religiöse Masse. Es fehlen
einige der wichtigsten Bindeglieder zwischen den Individuen, nämlich
die gemeinsamen Handlungsmotive. Da die Individuen zu einer ge-
wissen Untätigkeit und Ruhe gezwungen sind, können sich die Ge-
fühle und Leidenschaften nicht in derselben Weise übertragen wie
bei anderen Gelegenheiten. Dennoch bleibt noch genug Massensug-
gestion auch hier, und in der Tat zeigt eine Analyse der wichtigsten
Wirkungsformen der dramatischen Dichtkunst deutlich das Vorhanden-
sein der massenpsychologischen Veränderung.

Ganz allgemein gesprochen sind also Steigerung des Gefühls-
lebens und eine gewisse Lahmlegung des logischen Denkens
die Veränderungen, denen auch das Theaterpublikum unterliegt. Alles
also, was an das Gefühl appelliert, wird stärker, alles was an den Ver-
stand sich wendet, wird schwächer empfunden werden, als wenn man
dieselbe Dichtung etwa im stillen Kämmerlein liest. Hierin liegt der
psychologische Grund, daß es so schwer, ja fast unmöglich ist, im
Lesen den Erfolg eines Bühnenstückes vorauszusagen, wie sich denn
bekanntlich die erfahrensten Bühnen praktisch in solchen Berechnungen
erfahrungsgemäß aufs gröbste täuschen. Aber es ist eben nicht
a priori zu erschließen, welche Gefühle die Masse verstärken wird,
ebenso ist nicht vorauszusehen, über welche logischen Brüche sie
hinwegstürmen wird, ohne sie zu bemerken.

Die dramatisch wirksame Dichtung wird also mehr an Gefühl-
und Triebleben als an die Intelligenz sich wenden müssen. Die feinsten
geistigen Wirkungen, wie die tiefen Sentenzen des Tasso oder der
Iphigenie gehen verloren, wie zu leise geflüsterte Worte in einem
zu großen Räume. Dagegen kann eine banale Redensart, ein grober
Effekt, eine Sentimentalität, über die wir als Einzelleser mit verächt-
lichem Lächeln hinweggleiten würden, im Theater einschlagen und
auch eine stärkere Intelligenz vorübergehend packen. Die antiken
Rhetoren wußten das: um eine Masse zu packen, so lehrten sie, muß
man an zwei Dinge appellieren: an Instinkt und Leidenschaft. In der
Tat sind derartige Motive allein wirksam. In solchen Regungen ver-
stärkt sich die Masse, im Feingeistigen schwächt sie sich. Es mag
 
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