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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 8.1913

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Volkelt, Johannes: Der Begriff des Stils
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https://doi.org/10.11588/diglit.3587#0219
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DER BEGRIFF DES STILS. 215

deutungen heran. Sie ergeben sich also erst durch gewisse Differen-
zierungen des allgemeinen Stilbegriffs. Doch werde ich mich nur mit
der dritten der hier zu nennenden Richtungen in der Ausgestaltung
des Stilbegriffs genauer beschäftigen. Nach dieser dritten Richtung
hin liegen die psychologisch wie ästhetisch interessantesten Fragen,
zu denen der Stilbegriff hindrängt. Die beiden anderen Richtungen in
der Besonderung des Stilbegriffs sind für die allgemeine Ästhetik lange
nicht so problemreich; sie haben ihre große Wichtigkeit weit mehr
auf dem Boden der Kunstgeschichte. Ich will daher auf sie nur
flüchtig hinweisen.

Erstens entstehen Unterschiede der Formbestimmtheit infolge der
Entwicklung der Künste nach Zeiten, Völkern, Kulturen. So verschieden-
artig auch die Bedingungen sind, von denen das künstlerische Leben
einer Zeit abhängt, so pflegt sich doch innerhalb eines Volkes oder
mehrerer benachbarter Völker für Jahre, Jahrzehnte oder auch Jahr-
hunderte ein bestimmtes Kunstgepräge herauszuentwickeln. In einer
gewissen Kunst oder Kunstgruppe pflegt dieses Kunstgepräge mit be-
sonderer Deutlichkeit und Folgerichtigkeit hervorzutreten. Aber auch
auf die anderen Künste greift es mehr oder weniger über, so daß die
gesamte Kunstbetätigung einer Zeit von ihm teils beherrscht, teils be-
einflußt erscheint. So entstehen die geschichtlichen Stile. Es ist dies
die üblichste Bedeutung von Stil. Wenn von Stil die Rede ist, denkt
der Laie zunächst an solche Unterschiede wie Gotik, Renaissance,
Rokoko. Und auch in der Ästhetik wird häufig (so auch bei Friedrich
Vischer) bei Erörterung des Stilbegriffs vorzugsweise an die geschicht-
lichen Stile gedacht.

Zweitens ist dabei an den Unterschied zu denken, der sich durch
die Vielheit der Künstlerindividuen ergibt. Jeder wirkliche Künstler
hat eine nur ihm eigene Art der Formgebung. Soviel Künstler, soviel
Stile. Kunstwerke, deren Meister unbekannt oder streitig sind, werden
daher auf Grund genauer Kenntnis von den individuellen Stileigentüm-
lichkeiten diesem oder jenem Meister zugesprochen oder abgesprochen.
Es kann aber noch mehr ins Enge geschritten werden: jede Ent-
wicklungsstufe eines Künstlers hat ihren eigenen Stil. Besonders bei
Meistern von langer Lebensdauer spricht man von Jugend-, Reife- und
Altersstil. Aber auch kurzlebige Künstler können starken Stilwandel
zeigen. Ja schließlich ist jedes bedeutendere, umfassendere Kunstwerk
in seinem eigenen Stil gehalten. Man darf vom Stil des Werther, der
Lehrjahre, der Wanderjahre, der Natürlichen Tochter, des Westöstlichen
Divan reden. Der Stil der Hebbelschen Judith ist ein anderer als der
von Agnes Bernauer oder der Nibelungen. Übrigens bedeutet auch
in dieser äußersten Verengung Stil immer noch eine typische, für eine
 
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