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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 8.1913

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Tenner, Julius: Über Versmelodie, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.3587#0378
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374 JULIUS TENNER.

Wir wollen uns nunmehr dem künstlerischen Vortrag eines Ge-
dichtes, seiner sprachmusikalischen Vertonung zuwenden, um den Weg
zu erforschen, der vom geschriebenen zum gesprochenen Dichterwort
führt, und um uns über die Verschiedenheiten Rechenschaft zu geben,
durch die sich dieser Weg von dem eben erörterten unterscheidet, der
von der Musiknote zum Musikton leitet. Setzen wir den Fall, daß
das gelegentlich der Erörterung von Masings Schrift bereits zitierte
Lied Klärchens aus »Egmont«, dessen »sprechmusikalische Melodie«
sowie starke akustische und ästhetisch befriedigende Wirkung Masing
der gesetzmäßigen Anordnung und Dichtigkeit ihrer starkbetonten
Vollreime zuschreibt, von zwei künstlerisch gleich begabten Dar-
stellerinnen nacheinander gesprochen wird, und versuchen wir es
nun, die Grenzen, den Spielraum abzustecken, der den Vortrags-
mitteln sowie der persönlichen Auffassung beider Darstellerinnen ge-
währt ist.

Da finden wir denn eine Reihe von Analogien mit dem freien
Spielräume bei dem vorhin erörterten Klaviervortrag einer Ton-
dichtung. Zunächst ist ein gewisser Spielraum im Zeitmaß zu kon-
statieren, im allgemeinen sowohl als im besonderen. Es wird von
der Individualität und dem Temperament der Darstellerin abhängen,
ob sie das ganze Gedicht rascher oder langsamer spricht, ob sie ein-
zelne Sprechtakte, wie z. B. »Himmelhoch jauchzend« innerhalb des
Grundtempos mehr oder weniger beschleunigt, und andere, wie z. B.
»Zu Tode betrübt« mehr oder weniger verlangsamt. Ein ähnlicher
Spielraum ist der Tonstärke, gleichfalls der grundsätzlichen sowohl wie
derjenigen der einzelnen vom logischen Akzent getroffenen Kernworte zu-
gemessen. Ebenso der Art der Phrasierung, die den architektonischen
Aufbau des Gedichtes durchleuchten lassen soll, die Koordinierung
der vier Wortgruppen: »Freudvoll und leidvoll, gedankenvoll sein«,
»Langen und bangen in schwebender Pein«, »Himmelhoch jauchzend«,
»Zu Tode betrübt« — untereinander sowie die Subordinierung aller
vier Gruppen gegenüber der fünften: »Glücklich allein ist die Seele,
die liebt« plastisch hervorheben soll1). Und endlich auch der Art
der Bindung der Silben, die das legato des »Gedankenvoll sein«, das
portatnento des »Langen und bangen«, das staccato des »Himmel-
hoch jauchzend« darzustellen hat.

Wie steht es nun mit der Tonhöhenbewegung und der Klang-
farbenfolge?

') Es ist dies die sogenannte Satzmelodie, eine in diesem Falle zutreffende
Bezeichnung, denn die architektonische Gliederung der Klangmassen eines Satz-
gefüges beruht, nebst dynamischen und Tempoverschiedenheiten, hauptsächlich auf
Tonhöhenunterschieden.
 
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