480 BESPRECHUNGEN.
tritt. Der geistige Lebensvorgang, den er beschreibt und erklärt, soll »nicht als
eine Aneinanderreihung von Folgen« erscheinen, sondern als ein einheitliches
Werden. Er will die Geschichte des Geistes zeichnen als einen lebendigen Strom
von Kraftentfaltungen, deren Träger und Symbole die Personen und Werke, deren
Niederschläge Ideen und Meinungen sind. Nur wer das jedesmal Repräsentative
ergreift, kann darauf hoffen, die Geschichte der Tendenzen und Kräfte selbst zu
schreiben. Nur da, wo sich ein Wandel, ein neuer Impuls, eine neue Kraft aus-
drückt, ist ein geschichtlich entscheidender Punkt, eine geschichtliche Tat. Gerade
diese Grundgedanken sind es, die ihn veranlassen, das chronologische Prinzip nur
sehr gelegentlich in seine Darstellung hineinzurufen. Vielmehr behandelt er jede
Kraft und Tendenz, die in sich einheitlich sich entfaltet, als Einheit auch da, wo
sie rein chronologisch genommen in Abständen hervortritt und wo, ohne daß wirk-
liche Beeinflussungen stattfanden, sich in den Lauf ihrer eigenen Entwicklung zeit-
lich anders geartete einschieben. Nur wo ein neuer Bewegungsstoß in das Gesamt-
leben hinein von ihr ausgeht, der seinerseits wieder Aufnahme oder Entfaltung
ursprünglich fremder Kräfte voraussetzt, muß sie in getrennten Abschnitten darge-
stellt werden. Deshalb wird Lessings Verhältnis zu Shakespeare als Einheit be-
handelt, das Goethes jedoch nicht. Dabei ist für die literarisch-ästhetische Würdi-
gung des Buches besonders wichtig, wie streng und klar der Begriff des Einflusses
gefaßt, wie, unbeirrt von durchschnittlich-philologischen Gewohnheiten, die Methode
der Erkennung von »Einflüssen« gehandhabt wird. Gundolf weiß nicht nur theo-
retisch, »wieviele verschiedene Wege zu den gleichen Resultaten führen«, und daß
derselbe Satz im Munde eines Lessing einen völlig anderen Wesenssinn haben
kann als in dem eines Wieland, »weil er, auf einem anderen Weg entstanden, ein
anderes Naturell ausdrückt, eine andere Gesinnung verrät«. Er übt auch praktisch
stets aufs neue solche Einsicht. Man vergleiche etwa die Stellen über die Bedeu-
tung des Wortes »Genie« bei Voltaire und Lessing auf der einen, bei Hamann und
Herder auf der anderen Seite: über die entgegengesetzte Bedeutung von Lessings und
von Herders Griechenverehrung u. a. m., und die Erklärung des entgegengesetzten
Sinnes selbst wortgleicher Aussprüche aus dem verschiedenen seelischen Ausgangs-
punkt. Überall besitzt Gundolf die Kunst, die er bei seinen wissenschaftlichen Vor-
arbeitern vielfach vermißt, »hinter und in den Worten den Atem zu vernehmen,
der sie treibt«. Wieder, meine ich, ist es sein ästhetisch-sprachkritischer
Ausgangspunkt gewesen, der ihm die Sicherheit solcher Scheidungen auf all-
gemein geistigem Gebiet verstärkte und ihm die Grundlage gab für eine klare
Durchführung einer nicht an die Chronologie gebundenen geschichtlichen Dar-
stellung, einer idealen Genese. Wo sich eine geistig frühere Kraft noch in eine
geistig spätere Welt hineinschichtet, da ist es für die Geschichte des geistigen
Lebens nicht von Belang, ihrer zu gedenken, nachdem die eigentliche Vorwärts-
bewegung bereits über sie hinweggegangen ist.
Kann man aber streng genommen eine Geschichte schreiben, die jenem Begriff
des Lebens als eines ununterbrochenen Fließens völlig gerecht würde? Man ver-
stößt eigentlich gegen diesen Begriff, so oft man das Einsetzen einer neuen Kraft
an einen bestimmten Namen, ein Werk, eine geistige Tat bindet. Man teilt damit
den Lebensfluß. Diese Erscheinungsmomente symbolisieren ja nur den Augenblick
des kräftigsten Hervortretens, die Höhepunkte, das Machtwerden von vielfach
schon lange unterirdisch arbeitenden Kräften, die nur um so stark zu werden, daß
sie unsere Aufmerksamkeit fesseln, gerade der höchsten Verdichtung bedurften,
die sie eben nur in dieser oder jener Gestalt und ihren Werken erreicht haben. Es
ist und bleibt, wenn jene Konzeption des Lebens der Ausgangspunkt der Betrachtung
tritt. Der geistige Lebensvorgang, den er beschreibt und erklärt, soll »nicht als
eine Aneinanderreihung von Folgen« erscheinen, sondern als ein einheitliches
Werden. Er will die Geschichte des Geistes zeichnen als einen lebendigen Strom
von Kraftentfaltungen, deren Träger und Symbole die Personen und Werke, deren
Niederschläge Ideen und Meinungen sind. Nur wer das jedesmal Repräsentative
ergreift, kann darauf hoffen, die Geschichte der Tendenzen und Kräfte selbst zu
schreiben. Nur da, wo sich ein Wandel, ein neuer Impuls, eine neue Kraft aus-
drückt, ist ein geschichtlich entscheidender Punkt, eine geschichtliche Tat. Gerade
diese Grundgedanken sind es, die ihn veranlassen, das chronologische Prinzip nur
sehr gelegentlich in seine Darstellung hineinzurufen. Vielmehr behandelt er jede
Kraft und Tendenz, die in sich einheitlich sich entfaltet, als Einheit auch da, wo
sie rein chronologisch genommen in Abständen hervortritt und wo, ohne daß wirk-
liche Beeinflussungen stattfanden, sich in den Lauf ihrer eigenen Entwicklung zeit-
lich anders geartete einschieben. Nur wo ein neuer Bewegungsstoß in das Gesamt-
leben hinein von ihr ausgeht, der seinerseits wieder Aufnahme oder Entfaltung
ursprünglich fremder Kräfte voraussetzt, muß sie in getrennten Abschnitten darge-
stellt werden. Deshalb wird Lessings Verhältnis zu Shakespeare als Einheit be-
handelt, das Goethes jedoch nicht. Dabei ist für die literarisch-ästhetische Würdi-
gung des Buches besonders wichtig, wie streng und klar der Begriff des Einflusses
gefaßt, wie, unbeirrt von durchschnittlich-philologischen Gewohnheiten, die Methode
der Erkennung von »Einflüssen« gehandhabt wird. Gundolf weiß nicht nur theo-
retisch, »wieviele verschiedene Wege zu den gleichen Resultaten führen«, und daß
derselbe Satz im Munde eines Lessing einen völlig anderen Wesenssinn haben
kann als in dem eines Wieland, »weil er, auf einem anderen Weg entstanden, ein
anderes Naturell ausdrückt, eine andere Gesinnung verrät«. Er übt auch praktisch
stets aufs neue solche Einsicht. Man vergleiche etwa die Stellen über die Bedeu-
tung des Wortes »Genie« bei Voltaire und Lessing auf der einen, bei Hamann und
Herder auf der anderen Seite: über die entgegengesetzte Bedeutung von Lessings und
von Herders Griechenverehrung u. a. m., und die Erklärung des entgegengesetzten
Sinnes selbst wortgleicher Aussprüche aus dem verschiedenen seelischen Ausgangs-
punkt. Überall besitzt Gundolf die Kunst, die er bei seinen wissenschaftlichen Vor-
arbeitern vielfach vermißt, »hinter und in den Worten den Atem zu vernehmen,
der sie treibt«. Wieder, meine ich, ist es sein ästhetisch-sprachkritischer
Ausgangspunkt gewesen, der ihm die Sicherheit solcher Scheidungen auf all-
gemein geistigem Gebiet verstärkte und ihm die Grundlage gab für eine klare
Durchführung einer nicht an die Chronologie gebundenen geschichtlichen Dar-
stellung, einer idealen Genese. Wo sich eine geistig frühere Kraft noch in eine
geistig spätere Welt hineinschichtet, da ist es für die Geschichte des geistigen
Lebens nicht von Belang, ihrer zu gedenken, nachdem die eigentliche Vorwärts-
bewegung bereits über sie hinweggegangen ist.
Kann man aber streng genommen eine Geschichte schreiben, die jenem Begriff
des Lebens als eines ununterbrochenen Fließens völlig gerecht würde? Man ver-
stößt eigentlich gegen diesen Begriff, so oft man das Einsetzen einer neuen Kraft
an einen bestimmten Namen, ein Werk, eine geistige Tat bindet. Man teilt damit
den Lebensfluß. Diese Erscheinungsmomente symbolisieren ja nur den Augenblick
des kräftigsten Hervortretens, die Höhepunkte, das Machtwerden von vielfach
schon lange unterirdisch arbeitenden Kräften, die nur um so stark zu werden, daß
sie unsere Aufmerksamkeit fesseln, gerade der höchsten Verdichtung bedurften,
die sie eben nur in dieser oder jener Gestalt und ihren Werken erreicht haben. Es
ist und bleibt, wenn jene Konzeption des Lebens der Ausgangspunkt der Betrachtung