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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 9.1914

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Dessoir, Max: Systematik und Geschichte der Künste
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https://doi.org/10.11588/diglit.3043#0008

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MAX DESSOIR.

tischen Tatsachen können von hier aus wohl neu beleuchtet, aber nicht
restlos abgeleitet werden. Dieser Verlegenheit pflegen die Philosophen
sich zu entziehen, indem sie von der allgemeingültigen Beweisführung
übergehen zur Aussprache eines persönlichen Geschmacks und Er-
fahrungsreichtums. In jedem großen System findet sich eine Stelle,
wo bei fortschreitender Annäherung an das Einzelne die objektive
Lehre ersetzt wird durch ein subjektives Bekenntnis. Je stärker die
Persönlichkeit, je feiner ihr künstlerischer Takt, desto unmerklicher der
Übergang vom Beweisbaren zum Erlebten. Aber niemals fehlt der Bruch.

Hiergegen gibt es, so scheint mir, nur das eine Mittel, daß man
zugesteht: dem Seienden erwächst ästhetische Bedeutung nicht ledig-
lich aus der Art der darauf angewendeten Betrachtung. Vielmehr muß
es so liegen, daß gewisse Formen des Wirklichen dieser Tätigkeit und
Zweckbestimmung des geistigen Lebens entgegenkommen. Dinge oder
Vorgänge in Natur, Kultur und Kunst haben sachliche Merkmale, durch
die sie sich von den außerästhetischen Gegenständen scheiden: sie
sind, beispielsweise, »aus dem realen Zusammenhang herausgelöst«,
»bildhaft«, »in Spannungssynthesen eines erregenden und eines er-
füllenden Momentes aufgebaut«. Im Gefüge der ästhetischen Objekte
selbst herrscht eine Notwendigkeit, durch die ihre ästhetische Auf-
fassung gefordert wird. Das gilt vornehmlich für die sonst unver-
ständliche Trennung der verschiedenen Künste. Die Eigenart der Musik
ist offenbar mitbegründet in dem Zwang, der von den Klängen aus-
geht und erheischt, daß sie zur Gleichzeitigkeit des Zusammenklangs
verbunden werden, wohingegen die Malerei in der abweichenden Be-
schaffenheit der Farben wurzelt, daß sie nur zum räumlichen Neben-
einander verknüpft werden können. Hier macht ohne Zweifel der
Stoff des zu Vereinigenden seine Besonderheit geltend. Die philo-
sophische Ästhetik wird daher zur Anerkennung einer Gesetzlichkeit
getrieben, die zwar vernunftgemäß, jedoch keineswegs bloß mensch-
lich-vernünftig ist. Indem sie zu einem solchen Objektivismus über-
geht — und das scheint sie gegenwärtig zu tun —, gewinnt sie, wie
leicht ersichtlich, gesteigerte Fruchtbarkeit für die konkreteren Wissen-
schaften von den einzelnen Künsten.

Die Hauptmasse nämlich des mit objektiven Forderungen aus-
gestatteten Stoffes ist in den Kunstwerken enthalten, da die Kunst
eine bevorzugte Gelegenheit für das Eintreten des ästhetischen Ver-
haltens bildet. Nun verlangt jedes Kunstwerk einerseits, daß es nach
seiner Artzugehörigkeit gewürdigt werde, z. B. als poetisches und
genauer als dramatisches Werk, anderseits, daß die in ihm waltende
Individualität eines Menschen, eines Volkes, einer Zeit kräftig auf-
gefaßt werde. Das Besondere, das sich uns entgegenstellt, ist also
 
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