MAX DESSOIR.
Sage, der Spruchkomposition erforschen will, um die einzelnen Ge-
bilde innerhalb eines sogenannten biblischen »Buchs« würdigen zu
können.
Hieraus ergibt sich für eine allgemeine Kunstwissenschaft die Auf-
gabe, Sinn und Wert solcher Leitbegriffe zu bestimmen. Denken wir,
um den Gedankengang mit Anschauung zu erfüllen, an zwei recht
verschiedene Gruppeneinheiten: an die musikalische Form der Sinfonie
und an den allgemeinen Begriff des Motivs, der ja in sämtlichen Kunst-
gebieten verwendet wird. Will man ihre Bedeutung ermitteln, indem
man aus der Vielfältigkeit der Erscheinungen gemeinsame Merkmale
heraushebt, so gelangt man zu farblosen Definitionen oder zu der ab-
weisenden Erkenntnis, daß überhaupt nichts Bleibendes im geschicht-
lichen Wechsel verborgen sei. In der Tat ist kein dinglicher Bestand
aufzufinden, der als überall wiederkehrend für die Erklärung des Be-
sonderen etwas zu leisten vermöchte. Wohl aber bedeutet Sinfonie
eine Gesetzmäßigkeit, eine Regel für die Verknüpfung musikalischer
Gedanken, einen Grundsatz des Fortschreitens. Desgleichen ist »Motiv«
nichts sachlich Angebbares, durch Häufung beobachteter Fälle zu Er-
mittelndes; selbst inhaltliche Motive wie das bildhafte der Kreuz-
abnahme oder das dichterische des Inzestes sind Verbindungsprinzipien,
ordnende und gestaltende Kräfte, Hinweise auf eine bestimmte Raum-
gestaltung, Wegweiser für den Aufbau des Dramas. Während man
bisher die Motive entweder gemüthaft-geistig als Idee oder dinghaft
als den Kern teil des Ganzen mißverstand, sollten sie nunmehr als
eine ästhetische Funktion anerkannt werden.
Denn durch diese Wendung — die einer in der Logik bereits voll-
zogenen folgt — wird der Eigentümlichkeit jeder geschichtlichen Er-
scheinung ihr voller Wert belassen. Das Einzelne wird nicht mehr
zur Gewinnung eines leeren Allgemeinbegriffs ausgepreßt, sondern als
eine unentbehrliche Hilfe für die Wirksamkeit einer umfassenden Regel
in seiner ganzen Fülle aufbewahrt. Gehört ein Kunstwerk zu einer
bestimmten Kategorie, so heißt das: es bildet eine Stufe in dem Vor-
gang einer Gesetzlichkeit; seine Bedeutung erschöpft sich demnach
nicht in der Zugehörigkeit zu einer Regel, wie sie von der systema-
tischen Kunstwissenschaft darzustellen ist, sondern liegt ebenso sehr
in der geschichtlichen Besonderheit, als welche dem Gebilde seine
Stellung innerhalb der vielfachen Verwirklichungsmöglichkeiten des Prin-
zipes anweist. So wenig wie die Gleichheit des Rechtsgedankens die
Eigentümlichkeiten der geschichtlichen Gesetzgebung überflüssig macht,
so wenig lassen kunstwissenschaftliche Regeln die Besonderheit der
Stile als nebensächlich erscheinen. Das Tiefste und Beste, was eine
Zeit, ein Volk, ein Mensch verkündet haben, vergeht niemals, gleichwie
Sage, der Spruchkomposition erforschen will, um die einzelnen Ge-
bilde innerhalb eines sogenannten biblischen »Buchs« würdigen zu
können.
Hieraus ergibt sich für eine allgemeine Kunstwissenschaft die Auf-
gabe, Sinn und Wert solcher Leitbegriffe zu bestimmen. Denken wir,
um den Gedankengang mit Anschauung zu erfüllen, an zwei recht
verschiedene Gruppeneinheiten: an die musikalische Form der Sinfonie
und an den allgemeinen Begriff des Motivs, der ja in sämtlichen Kunst-
gebieten verwendet wird. Will man ihre Bedeutung ermitteln, indem
man aus der Vielfältigkeit der Erscheinungen gemeinsame Merkmale
heraushebt, so gelangt man zu farblosen Definitionen oder zu der ab-
weisenden Erkenntnis, daß überhaupt nichts Bleibendes im geschicht-
lichen Wechsel verborgen sei. In der Tat ist kein dinglicher Bestand
aufzufinden, der als überall wiederkehrend für die Erklärung des Be-
sonderen etwas zu leisten vermöchte. Wohl aber bedeutet Sinfonie
eine Gesetzmäßigkeit, eine Regel für die Verknüpfung musikalischer
Gedanken, einen Grundsatz des Fortschreitens. Desgleichen ist »Motiv«
nichts sachlich Angebbares, durch Häufung beobachteter Fälle zu Er-
mittelndes; selbst inhaltliche Motive wie das bildhafte der Kreuz-
abnahme oder das dichterische des Inzestes sind Verbindungsprinzipien,
ordnende und gestaltende Kräfte, Hinweise auf eine bestimmte Raum-
gestaltung, Wegweiser für den Aufbau des Dramas. Während man
bisher die Motive entweder gemüthaft-geistig als Idee oder dinghaft
als den Kern teil des Ganzen mißverstand, sollten sie nunmehr als
eine ästhetische Funktion anerkannt werden.
Denn durch diese Wendung — die einer in der Logik bereits voll-
zogenen folgt — wird der Eigentümlichkeit jeder geschichtlichen Er-
scheinung ihr voller Wert belassen. Das Einzelne wird nicht mehr
zur Gewinnung eines leeren Allgemeinbegriffs ausgepreßt, sondern als
eine unentbehrliche Hilfe für die Wirksamkeit einer umfassenden Regel
in seiner ganzen Fülle aufbewahrt. Gehört ein Kunstwerk zu einer
bestimmten Kategorie, so heißt das: es bildet eine Stufe in dem Vor-
gang einer Gesetzlichkeit; seine Bedeutung erschöpft sich demnach
nicht in der Zugehörigkeit zu einer Regel, wie sie von der systema-
tischen Kunstwissenschaft darzustellen ist, sondern liegt ebenso sehr
in der geschichtlichen Besonderheit, als welche dem Gebilde seine
Stellung innerhalb der vielfachen Verwirklichungsmöglichkeiten des Prin-
zipes anweist. So wenig wie die Gleichheit des Rechtsgedankens die
Eigentümlichkeiten der geschichtlichen Gesetzgebung überflüssig macht,
so wenig lassen kunstwissenschaftliche Regeln die Besonderheit der
Stile als nebensächlich erscheinen. Das Tiefste und Beste, was eine
Zeit, ein Volk, ein Mensch verkündet haben, vergeht niemals, gleichwie